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StrandgutEr erwachte, als das Buch von seinem Schoß rutschte und auf dem Dielenfußboden mit lauten Knall zuschlug. Noch schlaftrunken richtete er seinen Blick durch das weit geöffnete Fenster und durch die Dämmerung auf den Horizont. Wo Himmel und Meer aneinanderstoßen, ließ ein schmaler rosa Streifen ahnen, dass die Sonne bereits hinter der Erdkrümmung lauerte. Eine luftige Brise schlug die aufgezogene Gardine in sanfte Wellen. Als er sich erhob, unsicher noch, stieß er gegen das Weinglas, das auf dem Boden stand. Es kippte, zerbrach und der Rest Rotwein verteilte sich über die Splitter und sickerte in die Dielenfugen.Er zwinkerte in die ersten spitzen Sonnenstrahlen. Über dem Strand flatterten laut schreiende graue Fetzen aufgeregt durcheinander. Eine der Möwen ließ sich plötzlich fallen und landete unweit eines hellen Flecks inmitten des dunklen Bodens, hüpfte aufgeregt auf und nieder, näher an die helle Stelle und wieder zurück. Der Mann trat einen Schritt weiter ans Fenster, versetzte dabei dem Schaukelstuhl hinter sich einen Stoß, trat ihn in quietschende Bewegung. Als er seinen nackten Fuß in die Glassplitter setzte, fluchte er, wandte seinen Blick jedoch nicht von der Stelle am Strand. Die vorwitzige Möwe hatte sich derweil vorgewagt, verharrte dann reglos. Vor den Augen des Mannes verwandelte sich der helle Fleck in ein Kleid. Er meinte, zwei darunter hervorschauende abgewinkelte Beine zu erkennen. Eine Puppe, schoss es ihm durch den Kopf, eine große Puppe! Als die Möwe mit einem Satz auf deren Kopf sprang, krampfte der Mann am ganzen Körper, er griff sich in die Haare, krümmte sich vor Schmerz, schrie... ...der Puppenkopf, weit aufgerissene Augen, Spitzenrüschen um den Hals, Hände um den Hals, eine Marienstatue in der Hand, ein Brieföffner, die Marienstatue im Rücken der Puppe, ein kleines rotes Herz, ein riesiges rotes Herz, Blutstropfen im Mundwinkel... Er sieht jetzt. - - - - - - - Das Mädchen, das die Pier entlang geht, hat sich offensichtlich schön gemacht. Das schwarze lockige Haar ist hochgesteckt, der Mund puppenhaft geschminkt, die Wangen gerouget. Sie trägt ein langes weißes Leinenkleid im Empire-Stil, mit Spitzenbordüre an Saum, Ärmeln und Halsausschnitt. Die nackten Füße stecken in Ballerinas. Der Mann tritt auf sie zu. Sie sieht aus wie ein Engel, denkt er, wie aus einer anderen Welt. Er umfasst bestimmend ihre Schulter und führt sie zu den Booten. Er bittet sie , die Schuhe auszuziehen, ehe sie an Bord tritt. Das tut sie. Mit einer grazilen Bewegung bückt sie sich, streift die Ballerinas von ihren Füßen und hält sie dann in der linken Hand, während er ihre rechte greift, um ihr an Deck zu helfen. Er führt sie in die Kajüte, weist stolz auf einen gedeckten Tisch. Er hat sich viel Mühe gegeben, viel Mühe gemacht, findet er, hat silberne Leuchter besorgt, sie mit weißen Kerzen bestückt, zu einer weißen Tischdecke mit weißem Porzellan arrangiert. Im Kerzenschein sieht das Mädchen unwirklich aus. Er drängt sich an sie, sein Zeigefinger streicht sanft an ihrem Hals entlang. Ein süßlicher Duft steigt ihm in die Nase. Madonna, flüstert er. Sie löst sich von ihm, sieht sich im Raum um. In einer Ecke entdeckt sie einen üppigen Strauß dunkelroter Rosen, daneben einen Silberrahmen mit dem Foto einer schönen dunkelhaarigen Frau. Wie ein Heiligenschrein, denkt sie. Sie geht, das Foto näher zu betrachten. Wer ist das ? fragt sie. Meine Mutter, antwortet er heiser. Sie nimmt das Bild in die Hand., um es näher zu betrachten. Nein, sagt er wirsch. Lass das Bild stehen. Erschrocken lässt sie es fallen. Du Schlampe, schreit er sie an. Er greift nach ihrem Handgelenk, schüttelt sie heftig, greift nach ihrem Hals. Sie schreit ihn an, reißt sich los, er packt sie am Arm, seine andere Hand fasst hinter sich, bekommt etwas Kaltes zu fassen, holt aus. Das Mädchen stürzt, beinahe lautlos sackt sie zusammen, nur ein geflüstertes Stöhnen, auf dem Kleid wächst ein roter Fleck in Form eines Herzens... Gegen Morgen kommt er wieder zu sich. Er sitzt im Sand, lehnt mit dem Rücken gegen eines der vielen kleinen bunten Kähne, die die Fischer auf den Strand gezogen haben. Die Luft riecht immer noch nach Benzin. Die Innenseite des Kahns hinter ihm ist schwarz, teilweise zu Holzkohle verbrannt. Er sieht die Knochen in der Asche und Blumen, Rosen und Lilien. Sie sind verwelkt, jedoch vollständig vorhanden, matte rote und weiße Tupfer neben dem Dunkel der Verbrennung. Mitten in dem Haufen Asche liegt der Brieföffner. Er bückt sich, hebt ihn auf. er beißt die Zähne zusammen, atmet heftig zischend aus. Der Griff, eine Madonnenfigur, ragt über seine Faust hinweg. Als er sie öffnet, zeigen seine Handflächen riesige Brandblasen... - - - - - - - - Mit dem Schmerz war auch die große Puppe verschwunden. Im ersten Morgenlicht flatterten Möwen über eine vergessene hellgraue Wolldecke, die sich in Strandgut verfangen hatte. Der Mann hob sein Buch vom Boden auf, wischte ein paar Rotweinspritzer vom Einband, ging dann ins Bad, um sich für einen Strandspaziergang anzukleiden... |
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© 2004 · Mimi·![]() |