Damals im Sommer - Maggie

Maggie war erstaunt, wie gut sie sich noch erinnerte an jenen Tag im Sommer, damals, als Onkel Franz zu Besuch gekommen war. Er hatte den ganzen Nachmittag in dem Korbstuhl gesessen, dem einzigen, den sie hatten, in dem sonst die Oma saß, wenn sie einmal ihre Füße ausruhte - und das war eigentlich selten genug. Maggie hatte auf Onkel Franzens Schoß gesessen. Kurz nur. Sie war nie verschwenderisch gewesen mit ihren Beweisen für Zuneigung; vielleicht auch deshalb, weil es ihr an Übung fehlte. Ihren Versuchen wurde in der Regel schnell ein Ende gemacht - wie auch in diesem Falle. Onkel Franz war nicht ihr richtiger Onkel, sondern ein Schulfreund ihres Vaters; und Maggie war auch noch nicht Maggie, sondern Klein Margret. So wurde nach ihr gerufen, selbst dann, wenn sie getadelt wurde, und das war oft genug der Fall. "Klein Margret, wie siehst du schon wieder aus!", "Klein Margret, lass die Hühner zufrieden", "Klein Margret, wo bist du nur wieder gewesen?" Das mit der Maggie kam später. Da war sie 17, und die Studenten lebten in Kommunen, oder waren zu Demos auf der Straße, und es gab die Beatles und die Stones, und die Jugend machte es sich zur Pflicht zu rebellieren. Gegen jeden und jedes, und war es nur, indem sie nicht mehr Klein Margret sein wollten und auch nicht Margret, sondern Maggie. Englisch war eben gut! Auf jeden Fall anders.

Die Erinnerung an jenen Sommertag traf Maggie in dem Moment, als im Fernsehen von dem thailändischen Elefanten mit dem zerfetzten Fuß berichtet wurde. Er war auf eine Landmine getreten. Alle Welt machte sich nun Gedanken, wie dem armen Tier geholfen werden könnte, und eine große Sammelaktion wurde ins Leben gerufen, damit ein Ärzteteam den Fuß retten sollte.

Der Besuch von Onkel Franz war etwas ganz Besonderes. Vor ihm war nicht oft Besuch gekommen. Maggie hatte immer vermutet, dass die Oma daran nicht ganz unschuldig war. Einmal tauchte eine Frau auf, die ihr als Tante Anna vorgestellt wurde, Omas Schwester. Tante Anna wohnte im selben Ort, war vorher aber noch nie da gewesen, kam auch später nur noch ein oder waren es zweimal, und irgendwann hieß es, Tante Anna sei gestorben. Die Oma sprach nicht besonders nett über ihre Schwester.

Klein Margret verstand nicht alles, was sie sagte, aber sie erkannte den Tonfall. Genau so sprach die Oma nämlich auch über die anderen Kinder in der Straße; die kamen manchmal an den Gartenzaun und wollten mit Klein Margret spielen. Aber die Oma ließ sie kaum einmal aufs Grundstück, und so musste Klein Margret auf die seltenen Zeiten hoffen, wenn die Oma nicht da war. Oder sie musste die Einweckringe, die die Gartentür geschlossen hielten, zu lösen versuchen und zu den anderen Kindern ausreißen. Letzteres gelang ihr bald sehr gut. Sie war schneller verschwunden als jemand Piep sagen konnte. Schimpfe gab es in beiden Fällen. Kam die Oma zu früh zurück und entdeckte die Kinder in ihrem Garten - "ihrem" betonte sie, obwohl doch auch Maggie und ihre Eltern dort wohnten - gab es eine Standpauke, von der die Hälfte auch an Klein Margrets Mutter ging. War sie wieder einmal ausgerissen, dann war ihre Mutter außer sich - welche Sorgen sie sich doch gemacht hatte!
Um so mehr war Klein Margret erstaunt, als Onkel Franz so herzlich begrüßt wurde und sogar in Omas Korbstuhl sitzen durfte. Er hatte Blumen mitgebracht, Nelken, für die Oma und auch für die Mutter und außerdem echten Bohnenkaffee, ein ganzes kostbares Pfund! War das die Eintrittskarte für die gute Behandlung?
Für Klein Margret hatte Onkel Franz eine Tafel Schokolade mitgebracht, eine ganze Tafel, nur für sie alleine. Das war ein wahrer Schatz und ihr war, als hätte sie eine Auszeichnung bekommen. Sie war so glücklich, dass sie ihre Dankbarkeit auf eine auch für sie selbst überraschende Art und Weise zum Ausdruck brachte - sie kletterte Onkel Franz auf den Schoß und legte ihre Arme um seinen Hals. Noch bevor sie ihm einen Kuss auf die Wange drücken konnte, war die Oma zur Stelle und packte sie am Arm. "Klein Margret, lass doch den armen Mann in Ruhe!" Unsanft wurde sie von seinem Schoß gezogen. Klein Margret fand nicht, dass Onkel Franz arm war. Wo er doch so viele Schätze gebracht hatte! Blumen und Kaffee und Schokolade. Was meinte die Oma damit, wenn sie sagte: Der arme Onkel ?
 "Was ist denn", drängelte sie ihre Mutter, "was ist denn mit Onkel Franz?"
Die Oma war im Haus verschwunden. Die Mutter setzte Klein Margret in die Sandkiste und folgte. Sie wollten Kaffee kochen, das Geschirr holen, den Tisch decken. Vater und Onkel Franz redeten. "Was macht dein Bein?" "Oh, es geht schon", sagte Onkel Franz, "aber die Splitter machen mir natürlich von Zeit zu Zeit ganz schön zu schaffen. Sie entzünden das Bein immer wieder und dann müssen die Ärzte wieder mal ran. Ich hab schon eine richtige Kraterlandschaft." "Wenn du nicht gewesen wärst...", sagte der Vater. Er ließ den Satz unbeendet, denn die beiden Frauen kamen an den Tisch und brachten eine Tischdecke und den Kuchen.
Klein Margret hatte mit großen Ohren zugehört, aber wenig von alledem verstanden. Sie hatte sich schon einmal einen Splitter in den Finger gerissen und an den Schmerz konnte sie sich noch gut erinnern. Ihr Vater hatte danach die alte Holzbank abgeschmirgelt, auf ihren schmerzenden Finger gepustet und versprochen: "Das passiert hier nicht nochmal, Klein Margret".
 
Aber was war eine Kraterlandschaft? Zu dumm, dass Onkel Franz eine lange Hose trug, sie hätte diese Kraterlandschaft gerne einmal gesehen. Die Frauen deckten den Tisch. Mit dem guten Kaffeegeschirr, gar nicht mit dem, das sie sonst im Garten benutzten. Onkel Franz lobte den Streuselkuchen. "Es ist doch schön, dass schon wieder so viel zu bekommen ist", sagte die Oma, "sogar Bohnenkaffee. Wenn der auch sehr teuer ist. Wir haben auch ein Viertelpfund. Für besondere Gelegenheiten." Onkel Franz war natürlich eine. Aber er hatte schließlich auch ein Paket Kaffee mitgebracht. Klein Margret bekam Apfelsaft, aus eigener Ernte, selbst gemacht. Eigentlich mochte sie lieber Kakao; den gab es so selten wie Bohnenkaffee. Aber die besondere Gelegenheit galt offensichtlich nicht für sie!

Während sie alle am Tisch saßen, wurde wenig gesprochen. Klein Margret hätte gerne mehr über die Kraterlandschaft erfahren. Sie hing an Onkel Franzens Lippen, hoffte, er würde mehr darüber erzählen, denn sie traute sich nicht zu fragen. Die Oma widmete dem Besuch ihre ganze Aufmerksamkeit. Immer wieder schenkte sie ihm Kaffee nach, legte ein neues Stück Streuselkuchen auf seinen Teller. Schließlich wehrte er lachend ab. "Nichts geht mehr. Noch ein Krümel und ich platze!" Er stand auf und fragte nach der Toilette. Der Vater zeigte auf einen Holzbau hinten im Garten neben dem Hühnerstall. Die verwitterte Tür wies ein ausgesägtes Herzchen auf. "Aber nein!" Die Oma war entsetzt. "Doch nicht das Plumpsklo! Wir haben doch ein richtiges neues WC im Haus." Stolz ging sie voran. Klein Margret fiel auf, dass Onkel Franz humpelte. Ihr Vater stand ebenfalls auf und verschwand in Richtung Hühnerstall.
 "Was ist eine Kraterlandschaft?" wandte sich Klein Margret an ihre Mutter.
 "Wie kommst du denn darauf? Auf dem Mond gibt es Krater, tiefe Löcher. Die dunklen Flecken, die man zu sehen kriegt, sind welche."
 Klein Margret zog die Stirn kraus. Tiefe Löcher und dunkle Flecken auf dem Bein von Onkel Franz? Das konnte sie nicht glauben!
 Ihr Vater brachte ein kleines Körbchen Eier aus dem Hühnerstall. "Schau mal, Ruthi, die haben so gut gelegt. Da kannst du uns heute Abend Rühreier zum Abendbrot machen."
Onkel Franz kam zurück in den Garten. Die Mutter stand auf, räumte das Geschirr und die Kuchenreste auf ein Tablett und kündigte an, sie ginge jetzt abwaschen. "Wie gefällt's die denn da oben bei Hamburg, Franz? Ich hätte nicht in Schleswig-Holstein bleiben wollen. Die kurze Zeit in dem Sammellager hat mir schon gereicht. Aber vielleicht lag's daran, dass dort alles so matschig war. Es hat doch immerzu gegossen. Ein Wunder, dass ich mir nicht den Tod geholt habe. Das hätte mir noch gefehlt, nach allem..." Verlegen hielt er inne. Onkel Franz wehrte ab. "Nun lass mal...."
 Klein Margret rutschte von ihrem Stuhl und verschwand unter dem Tisch. Die Kraterlandschaft wollte sie unbedingt sehen! Onkel Franz hatte ein Bein über das andere geschlagen. Dadurch hatte sich das Hosenbein etwas hoch gezogen und ein Stück seines Beines war sichtbar. Klein Maggie schob sich näher heran und tatsächlich - auf dem Bein befanden sich tiefe, zum Teil rötliche Furchen und kleine und große blaue Stellen.
 "Die Kraterlandschaft!" Klein Margret staunte. "Und so sah es also auch auf dem Mond aus?!"
 "Klein Margret! Was machst du da unter dem Tisch? Komm sofort da raus!" Die Oma war zurückgekommen und hatte sie natürlich sofort entdeckt. "Da hat der Onkel Franz deinen Papa vor dem Tode gerettet und du machst solche Mätzchen mit ihm!" Die Oma war sichtlich wütend, aber alles, was Klein Margret mitbekam, war, dass Onkel Franz ihren Papa gerettet hatte. Wie im Märchen! Und so tat sie das, was sie aus einem Märchen kannte, das die Oma ihr erzählt hatte. Sie kniete sich vor Onkel Franz, nahm seine Hand und küsste sie.
 Sie wusste wohl, dass da noch ein weiteres Geheimnis bestand: Wie hatte er es gemacht? Wie hatte er ihren Papa gerettet? Aber sie war nicht neugierig. Er hatte es getan, und das war ihr genug.
 Die Oma stand da und sagte kein Wort.
Maggie fiel ein, dass einiges anders wurde, nachdem Onkel Franz abgereist war. Die Oma brachte Blumen an das Grab ihrer Schwester. Sie unterhielt sich mit den Nachbarn über den Gartenzaun hinweg, tauschte mit ihnen Obst zum Kosten aus. Die anderen Kinder durften zum Spielen kommen. Und aus Klein Margret wurde Margret. Von Onkel Franz kamen viele Monate Briefe und Postkarten. Als Margret einmal fragte, warum er sie denn nicht einmal wieder besuchen käme, erzählte ihr Vater, er habe eine schwere Operation gehabt. Man habe ihm sein Bein abnehmen müssen. Die Entzündung durch die Splitter habe eine Blutvergiftung zur Folge gehabt. Und er sei noch immer im Krankenhaus. Es sehe nicht gut aus.
 Dann kam die Nachricht, er sei verstorben. Es war das erste Mal, dass Margret ihren Vater weinen sah.
Über die Jahre war das Bild, das sie von Onkel Franz hatte, mehr und mehr verblasst bis es völlig verschwunden war. Umso mehr war Maggie erstaunt, an wieviel sie sich nun erinnerte.
Ach ja, dem Elefanten wurde sein Fuß erhalten. 
 
© 2004 · Mimi··email senden