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Das Toupet"Noch jemand zugestiegen?" Der Ruf beim Öffnen der Abteiltür war nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war, dass sie in ein junges Gesicht blickte, als sie hochsah, um ihren Fahrschein vorzuzeigen. "Das Jahr ist noch jung", dachte die junge Frau, "das Personal der Bahn auch; wieder!!! Wäre interessant, wenn es gemeinsam mit dem Jahr altern würde: Zu Beginn würde das "Jungvolk" durch den Zug geschickt, gegen Mitte also das "Mittelalter" und gegen Ende dann die Gruftis." Sie musste grinsen bei diesem Gedanken. Sie hoffte, der junge Mann würde darauf reagieren. Schade, dass er nicht wusste, was sie dachte. Was er wohl davon hielte? Er gefiel ihr, und da sie zum neuen Jahr ihre alte Beziehung aufgekündigt hatte, war sie sozusagen auf der Suche, und dieser junge Schaffner hatte sich als wahre Augenweide entpuppt. Er aber sah sie nicht einmal an. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf ihren Fahrschein, so als sei der nicht der Rede wert. Und sie selbst wohl auch nicht, denn er schaute über ihren Kopf hinweg zu jemand oder etwas im Abteil hinter ihr. "Sie können das doch gar nicht richtig gelesen haben", sagte sie deshalb laut, ehe der junge Mann sich in Bewegung setzte. "Wie bitte?" Er drehte sich um und sah ihr ins Gesicht "Also doch", dachte sie und musste wieder grinsen. "Ich sagte, Sie können von da oben doch unmöglich den Aufdruck auf meinem Fahrschein gelesen haben." "Stimmt", sagte er. Und nun war er es, der grinste. "Irgendwie bin ich nicht ganz bei der Sache heute." "Müde", vermutete sie, "wohl schon eine ganze Weile unterwegs, oder?" "Ja, auch. Aber eigentlich in Gedanken." Er wandte sich dem nächsten Fahrgast zu, dem er den Fahrschein abnahm. Er hielt ihn betont dicht vor seine Augen, dann drehte er sich noch einmal um, zwinkerte ihr zu und wünschte ihr einen schönen Tag. "Schade", dachte sie, "keine Chance ihn näher kennen zu lernen." Sie steckte den Kopf wieder in ihr Buch.Am Ziel ihrer Reise traf sie den jungen Mann wieder. Das heißt, der junge Mann traf auf sie. Sie saß im Bahnhofscafé bei einem Glas Tee, vertieft in ihr Buch, als jemand zu ihr an den Tisch kam und sagte: "Darf ich bitte Ihren Fahrschein sehen?" "Waaas?" Sie blickte von ihrem Buch auf. "Wofür brauche ich denn hier..." Sie brach ab, als sie erkannte , wer vor ihr stand. "Hey, was verschlägt Sie hierher?" "Oh, meine Schicht ist zu Ende." Er setzte sich und stellte eine große Papiertasche neben sich auf die Erde. "Ich war auf dem Weg nach Hause und wollte noch eben was trinken, und da sah ich Sie hier drinnen sitzen." Er schwieg und sah sie abwartend an. Da sie nichts sagte, fuhr er fort: "Sie haben mich ganz schön erwischt, da im Zug. Naja, mit dem Fahrschein, meine ich." Er bestellte einen Kaffee, als der Kellner an den Tisch trat, und wühlte dann in seiner Papiertasche. Als er wieder hoch kam, legte er etwas Haariges auf den Tisch. "Gucken Sie sich das an. Seit Tagen lagere ich nun dieses Stück in meinem Dienstabteil, immer in der Hoffnung, dass ich wieder auf die Frau treffe, der dieser Fiffi offensichtlich gehören muss." Er griff in die verfilzten Haare und hob ein Toupet in die Luft. Die junge Frau zog die Stirn kraus und schüttelte den Kopf. "Meiner ist es nicht, und ich kann auch bestimmt nichts damit anfangen." "Naja", sagte er, "genau genommen scheint es ja auch ein Herrentoupet zu sein. Trotzdem, es war eine Frau, die es in ihrem Abteil zurückgelassen hat. Eine Putzfrau hatte es entdeckt und zunächst in ihren Müllbeutel entsorgt, außerdem waren in der Gepäckablage hübsch verpackte Päckchen zurückgeblieben. Weihnachtsgeschenke, war die erste Vermutung, aber als die Putzfrau sie dann auspackte, waren sie leer. Reine Verpackung, sonst nichts! Sagte sie jedenfalls. Ich bin mir nicht so sicher. Vielleicht hat sie die Sachen rausgenommen - weiß man's? Beweisen kann ich's natürlich nicht. Auf jeden Fall kam ihr das mit dem Toupet dann doch komisch vor. Sie hat's aus dem Müll gefischt und abgegeben. Ich kann mich noch sehr gut an die Frau erinnern. Wegen der Päckchen, und weil sie einen Pelzmantel trug. Einen Pelz! Stellen Sie sich das vor! Wer traut sich heutzutage noch ..." Seine Stimme überschlug sich inzwischen fast, er gestikulierte weit ausholend mit Armen und Händen und stieß plötzlich gegen seine Kaffeetasse, die laut scheppernd auf den Steinfußboden schlug und zerbrach. "Ach du meine Güte!" Er und sprang von seinem Sitz auf, um sich sofort zu bücken und die Scherben aufzulesen. "Tut mir leid", sagte er zum Kellner, der herbeigeeilt war um zu helfen. "Tut mir leid", sagte er auch zu der jungen Dame, "ich hoffe, Sie sind nicht von einer Scherbe getroffen worden." "Nö", sagte sie, " das hätte ich wohl schon gemerkt." Der junge Mann hattees plötzlich eilig. Er steckte das Toupet zurück in die Tüte, legte fünf Mark auf den Tisch, zuckte nochmals die Achseln um sein Bedauern auszudrücken und reichte der jungen Frau die Hand. "Tut mir leid, ich muss jetzt unbedingt los. Vielleicht sieht man sich ja..." "Och ja," sagte sie, "ich würde doch zu gerne erfahren, ob sich da noch was tut mit den Haaren. Ich bin morgen wieder hier, um die gleiche Zeit. OK?" Er hob die Hand, nickte, etwas abwesend eigentlich, wandte sich zum Gehen und blieb stehen. "Hey! Das gibt's doch gar nicht! Das ist sie doch!" Er streckte den Finger aus, zeigte auf einen Punkt in der Menge und spurtete los... Da saß sie für einen Moment und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Am liebsten wäre sie hinterhergelaufen. Aber als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, war von dem jungen Mann schon nichts mehr zu sehen. Als sie am nächsten Tag wieder in dem Café eintraf, saß er schon dort und schaute nach ihr aus. Er stand von seinem Stuhl auf, wartete bis sie Platz genommen hatte, ehe er sich wieder setzte. "Hey," sagte sie, " ich hätte nicht gedacht, dass Sie tatsächlich kommen würden. Und... haben Sie sie erwischt?..." Inzwischen war der Kellner an ihren Tisch getreten. Es war derselbe wie am Tag zuvor und er machte eine lustige Bemerkung zu dem Vorfall mit der Tasse. Der junge Mann sah verlegen auf seine Hände. Sie bestellte sich einen Tee und nahm gleich ihren Faden wieder auf. "Das war doch die Frau, die das Toupet zurückgelassen hat oder?" " Ja", aufgeregt rutschte er auf seinem Stuhl herum, " das war sie! Haben Sie sie gesehen? Sie hatte wieder den Pelz an!" "Nö", sagte sie, "ich habe nichts mitgekriegt. Bloß, dass Sie plötzlich losgerannt sind wie wild, ehe ich noch nachkommen konnte. Ich wäre nämlich gerne auch hinterher... endlich passiert mal was! Wie im richtigen Krimi. Kriegt man ja sonst nur im Fernsehen. Oder im Kino. Na, so wie bei "Lola rennt" oder so . Naja, ganz stimmt der Vergleich ja nicht. Aber immerhin. Aufregend ist`s schon. Was war denn nun?" Diesmal war es an ihr, sich außer Atem zu reden. "Leider", sagte er, "ich hab sie nicht gekriegt. Plötzlich war sie einfach weg. Vielleicht war sie ja auch nie da. Vielleicht habe ich mich ja geirrt. Das geht mir nämlich schon so, seitdem ich diesen Flokati mit mir herumtrage. Ich hab ihn also heute Morgen zur Bahnhofspolizei gebracht und gesagt, sie sollen selbst zusehen, wie sie die Frau finden. Ich befürchte, denen ist das eh Wurscht. Das Teil wandert in die Fundabteilung, und das war's dann." Er verzog das Gesicht, nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. "Das kann doch wohl nicht wahr sein!" stieß sie aus. " Da könnte ich in ein livehaftiges Abenteuer einsteigen, und nun ist schon Schluss?" "So aufregend ist es doch eigentlich gar nicht", meinte er nun und legte seine Hand auf die ihre als wollte er sie beruhigen. "Nervig war nur, dass ich ständig Frauen in Pelzmänteln sah. Kaum zu glauben, wie viele es doch noch gibt. Obwohl, es waren dann doch eine Menge Webpelze dabei. Ruckzuck bekommt man ein Auge dafür. Ich hatte mir einfach vorgestellt, ich würde die Frau im Zug wiedersehen und könnte ihr ihre Sachen zurückgeben. Und natürlich bei der Gelegenheit herausfinden, warum sie den Kram im Abteil zurückgelassen hat. Denn das hat sie wohl - sie hätte doch sonst bestimmt längst danach gefragt." "Ja eben", unterbrach sie ihn, "das klingt doch sehr mysteriös. Und spannend!" Er zog eine Augenbraue hoch. "Mag sein, aber wahrscheinlich steckt gar kein Geheimnis dahinter. Ich befürchte, sie wollte alles einfach nur loswerden..." Er nahm den letzten Schluck Kaffee und winkte den Kellner heran um einen neuen zu bestellen.Dann beugte er sich vor: "Sagen Sie, wie heißen Sie eigentlich? Da reden wir und reden, bestreiten - wie Sie so schön sagen - fast ein Abenteuer gemeinsam und haben uns noch nicht einmal vorgestellt! Das ist so verrückt wie eigentlich alles an unserem Zusammentreffen." Er schüttelte verschmitzt den Kopf. "Und, wie steht's mit der Fahrkarte?" fragte er sie neckisch. "Fahrkarte?", grinste sie, "brauche ich keine. Die liest der Schaffner sowieso nicht. Also, ich heiße Sonja, arbeite als Schreibkraft, habe gerade ein paar Tage Urlaub und würde die Bahn ja ein paar Mark verdienen lassen, wenn sie sich nur sorgfältiger um die Kontrolle der Fahrscheine kümmern würde." Er lachte. Dann stand er auf, verbeugte sich und sagte: "Gestatten, Manuel, Zugbegleiter. Schwer kurzsichtig." Er setzte sich wieder, und nach einer Weile sah man die beiden mit zusammengesteckten Köpfen, eingetaucht in eine Welt voller Abenteuer und Erlebnisse, auch wenn sie diese nur aus Fernseh- und Kinofilmen kannten. "Noch Zugestiegene?" Mit einem Schwung war die Abteiltür aufgerissen worden und ein etwa vierzigjähriger Schaffner wandte sich an ein junges Pärchen, das ihm bereitwillig die Fahrscheine entgegenhielt. Er warf einen flüchtigen Blick darauf und wandte sich einem weiteren Fahrgast zu. Die junge Frau und der junge Mann sahen sich an und fingen leise an zu lachen. "Wenn der wüsste", kicherte die junge Frau. "Und dann noch: es ist Juni, und man schickt tatsächlich die mittlere Altersgruppe durch den Zug..., kaum zu glauben." "Hä?" machte er. Sie kicherte weiter. "Erzähl ich dir ein anderes Mal." Als der Zug in einen Bahnhof einlief, stand sie auf und öffnete das Fenster. "Guck dir das an", sagte sie, "eine Frau im Pelzmantel, mitten im Sommer! Und ein Mann dabei. Mit Glatze!!" "Waaas?" Er sprang auf und stellte sich neben sie. "Wo ist sie?" fragte er aufgeregt und verrenkte sich den Hals um einen guten Blick zu erwischen. Sie zog ihn wieder auf den Sitz und küsste ihn auf die Wange. "Nirgends", sagte sie, "ich wusste ja gar nicht, dass sie dir immer noch im Kopf herumspukt. Eine fremde Frau. Was soll ich nur davon halten..." |
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© 2004 · Mimi·![]() |