Das Geheimnis

Mutter hätte das Haus verlassen sollen, als sie noch ein Teenager war. Sie ist geblieben. Statt dessen werde nun ich gehen.

Der Mann hatte fast den gesamten Vormittag auf dem Sofa im Wohnzimmer gesessen, Tee getrunken, den meine Großmutter nach ihrem uralten, eigenen Rezept aufgebrüht hatte - ein Hauch Karneel verriet das und überdeckte den muffigen Geruch des Hauses - und ansonsten Zeit gestohlen, meiner Mutter, meiner Großmutter und vor allem sich selbst. Er war Angestellter einer Versicherungsgesellschaft, total von sich überzeugt, dachte, er hätte leichtes Spiel mit den beiden Frauen, aber er konnte ja nicht wissen, daß in unserem Haus nichts ohne die Zustimmung meines Großvaters geschah. Und wenn auch meine Mutter fand, ihre Krankenversicherung habe durchaus eine Überprüfung und Aufstockung nötig, so scheiterten ihre kläglichen Versuche am zwar geröchelten, aber doch unmißverständlichen "Nein" meines Großvaters, der in seinem Zimmer auf dem Canapé lag. Alle Türen mußten weit offen stehen, damit er auch jedes Wort mitbekam. Die Fenster hatten geschlossen zu bleiben, seitdem er kränkelte. Und das tat er schon eine ganze Weile, genau genommen ging es ihm von Woche zu Woche schlechter. Einen Arzt durften wir nicht kommen lassen. Er werfe sein Geld doch nicht zum Fenster raus! war Opas Kommentar, und was er sagte, war natürlich Befehl.

Während also der Versicherungsmensch in der Küche saß, stand ich im Supermarkt an der Käsetheke und hakte auf meinem Einkaufszettel einen Posten nach dem anderen ab. Ich hätte in der Schule sein sollen, aber nachdem ich mich morgens wieder übergeben hatte, erlaubte mir meine Mutter, im Bett zu bleiben. Das war schon das fünfte Mal in diesem Monat, und ich merkte, daß Mutter es zunehmend schwieriger sah, mein Daheimbleiben vor Großvater zu verbergen. Wegen jedem Dreck die Schule schwänzen, soweit kommt das noch! hatte er seine Verachtung gleich beim ersten Mal herausgehustet. Mutter war einfach zu schwach, ihm etwas entgegenzusetzen, und Großmutter hielt sich aus allem heraus. Wenn ich doch nur selbst... Aber ich hatte längst die Erfahrung gemacht, daß sich dann seine Wut sofort gegen meine Mutter richtete, und so hatte ich, als der Versicherungsvertreter gekommen und Großvater abgelenkt war, den Einkaufszettel aus der Küche geschnappt und mich zur Hintertür hinausgestohlen.

Eine Frau stupste mich von der Seite an. Sie war nicht mehr ganz jung und hatte einen verkniffenen Zug um den Mund. So hätte meine Mutter aussehen müssen, nach allem, aber irgendwie hatte sie es geschafft, ihr Leben nicht auf ihrem Gesicht widerzuspiegeln. Was is nu? Biste fertig? Auch die Verkäuferin blickte verärgert fragend auf mich. Ja, äh,... ja, ich denke schon, stotterte ich und nahm der unfreundlichen Verkäuferin mein Käsepäckchen ab.

Während ich zur Kasse ging, weilten meine Gedanken bei meiner Mutter. Ich hatte sie nie so ruhig gesehen, wie in dem Moment, als Großvater seinen Schwächeanfall erlitt. Großmutter lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung, wuselte mal hierhin, mal dorthin, ließ sich nicht davon abbringen, ausgerechnet jetzt staubsaugen zu wollen, während Mutter Großvater vorsichtig den Oberkörper anhob und mich anwies, ihn in dieser Position zu halten. Sein Herz, seine Lunge...murmelte sie, ging ans Telefon und rief den Rettungsdienst. Der kam schnell, tat das Notwendige, lobte meine Mutter, fuhr Großvater ins Krankenhaus. Kaum waren sie aus der Tür, öffnete Mutter alle Fenster, setzte sich in den großen Lehnstuhl und legte ihre Füße auf die Glasplatte des Couchtisches. Sie sah zufrieden aus, fast triumphierend. Ich hatte den Eindruck, als sei diese Zufriedenheit nicht aus dem Bewußtsein erwachsen, die Situation so gut gemeistert zu haben, sondern aus einer Hoffnung, Großvater nie wiederzusehen. Ich selbst erwischte mich dabei, diesen Wunsch innerlich vor mich her zu beten. Bitte, lieber Gott,...

Zum ersten Mal seit langem schlief ich wieder in meinem eigenen Bett. Ich war in Mutters Zimmer umgezogen, nachdem ich das Tagebuch gefunden hatte. Großmutter hatte mich auf den Speicher geschickt, um einen Karton mit alten Einweckgläsern zu holen, und diese seltene Gelegenheit hatte ich genutzt, einen alten Küchenschrank und eine riesige Holztruhe zu durchwühlen. Im Schrank befanden sich Mengen von alten Zeitschriften und Zeitungen, in der Truhe Berge von Kleidungsstücken, überwiegend Kleider, die meine Mutter getragen haben mußte, als sie so alt war wie ich jetzt. Eines nach dem anderen holte ich heraus und hielt es mir an, betrachtete mich in einem alten fast blinden Spiegel, der gegen eine Schneiderpuppe gelehnt war. Richtig, Mutter hatte als junges Mädchen geschneidert. Großmutter hatte das mal erwähnt... Ganz zu unterst in der Truhe stieß ich auf ein in vergilbtes Zeitungspapier eingeschlagenes Büchlein. Als ich es aufschlug, erkannte ich die - wenn auch kindliche - Handschrift meiner Mutter. Ich warf die Kleider zurück in die Truhe, verbarg das Buch unter meinem Pullover und schmuggelte es so in mein Zimmer. Abends im Bett öffnete ich es und las - mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Weit über Mitternacht hinaus lag ich wach, denn das , was ich las, fesselte und erschreckte mich derart, daß ich asthmatisch nach Atem zog und hoffte, dieser Spuk möge mit der Geisterstunde verschwinden. Doch der Spuk hing längst an mir. Am nächsten Morgen hatte jeder im Haus ein anderes Gesicht.

Die darauf folgende Nacht kroch ich ins Bett meiner Mutter und drückte mich an sie, wie ich es als kleines Mädchen getan hatte, wenn ein Gewitter tobte. Wenn ich mir sehnlichst wünschte, meinen Vater zu kennen und bei mir zu haben, um mich unter den Schutz von zwei Elternteilen zu stellen. Denn das mußte doch unbedingt helfen! Die Frage nach meinem Vater mußte ich nun nicht mehr stellen. Dieser Spuk lebte mit mir im selben Haus, hatte immer mit mir im selben Haus gelebt!

 Er kam natürlich aus dem Krankenhaus zurück. So schlecht es ihm auch ging, kaum war er zurück, stand das Haus unter seinem Kommando. Es war, als sei er nie fort gewesen. Am nächsten Morgen übergab ich mich nach dem Zähneputzen heftig in die Kloschüssel.

Na, wie sieht's aus? Die Frau an der Kasse wollte freundlich sein. Alles in Ordnung zu Hause? Geht's deinem Großvater besser? Ich merkte, wie mir wieder Saures die Speiseröhre emporstieg. Alles OK, würgte ich hervor. Ich warf das Käsepäckchen in meine Einkaufstasche und floh vor weiteren Fragen und meiner Übelkeit.

Das Auto des Versicherungsvertreters war inzwischen verschwunden. Als ich zur Hintertür in die Küche trat, schlug mir ein merkwürdiger Geruch entgegen. Ich erkannte den Mief, der für unsere ungelüftete Räume typisch war, auch der Hauch von Karneel lag noch in der Luft, aber beide Gerüche wurden verdrängt von einer mir unbekannten Süße. Im Flur fand ich Mutter mit gesenktem Kopf neben dem Garderobeschränkchen auf dem Fußboden kauern, das Telefon auf dem Schoß, den Hörer in der Hand. Aus Großvaters Zimmer drang Schluchzen. Automatisch machte ich ein paar Schritte auf die offene Tür zu. Nicht, flüsterte Mutter und hob abwehrend eine Hand. Sie war blutverschmiert. Ebenso ihr Kleid, ebenso ihr Gesicht.

Von Ferne näherte sich schrill die Sirene eines Polizeiwagens...Als der erste Beamte das Haus betrat, hatte ich längst alle Fenster geöffnet. Großvaters Zimmer betrat ich nicht. Dann ging ich packen.
 
© 2004 · Mimi··email senden