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Maries EngelMarie hatte es mit Engeln. Ganz wild war sie darauf. In ihrem Zimmer fanden sich Engel aller Arten: Engel auf Tassen, Tellern, Bildern, Bettwäsche, Engel in Stein, Plüsch, Plastik, Papier. Röschen blätterte stundenlang in Büchern. Wenn nur Engel darin auftauchten.Maries Mutter war genervt. Zu Anfang hatte sie diese Sammelleidenschaft ja noch niedlich gefunden, sie sogar unterstützt. Aber mittlerweile war Marie acht. Ihre Klassenkameraden rümpften die Nase und sagten, sie sei wunderlich. Marie sammelte nämlich nicht nur Engel, sie hatte auch behauptet, einen gesehen zu haben. Fünf war sie, als sie das kleine schwirrende Wesen erblickte. Ihre Mutter hatte sie gebeten, den Kompost in den Garten zu bringen. An einem trüben Septemberabend, etwas schummrig, doch immer noch hell genug um auf dem unebenen Gartenweg nicht zu stolpern. Auf dem Rückweg hörte sie ein Rascheln im Garten nebenan. Sie dachte sofort an Nachbars Katze, die sie so gerne mochte. Minki, Minki, flüsterte sie und trat, als sich nichts rührte, an die Hecke. Bog ein paar Zweige auseinander, spähte hindurch. Das Ding war klein, schmal, handhoch etwa, silbrig, schlug heftig mit kleinen schimmernden Flügeln. Es schwebte unter dem dicken Ast des Apfelbaumes. Der, von dem aus Minki so gerne den Garten überblickte. Aber dies war natürlich nicht Minki. Für Marie war sofort klar: Das ist ein Engel ! klar! So hatte sie sich immer den Engel vorgestellt, der in Omas Geschichten auftauchte. So zart, so leuchtend, so glänzend. Sie war aufgeregt, lief sofort ins Haus, um ihrer Mutter davon zu erzählen. Die schüttelte nur den Kopf. Später, als beide im Bett waren, rief Maries Mutter ihre beste Freundin Bella an. Wenn sie ihre Tochter auch für spinnert hielt, so hatte sie doch endlich etwas, mit dem sie in Konkurrenz zu Bellas Olaf treten konnte. Bellas Olaf war nämlich auch fünf und lief seit einem halben Jahr als kleiner Ritter durch die Welt. Mit Rüstung und Schwert tötete er tagein tagaus Drachen, rettete Burgfräulein. Bella gab eine Latte an mit ihrem Olaf. Bella, stell dir vor, Marie hat es mit Engeln, sprudelte sie heraus wartete gespannt auf ein Wort ihrer Freundin. Schade, Rosi, dass Marie kein Burgfräulein sein will. Da könnte mein Olaf sie so prima retten. Ob er was mit einem Engel anfangen kann... ich weiß ja nicht... Rosi lachte ins Telefon, verzog aber dabei das Gesicht. Mein Mariechen ist eben was Besonderes, sagte sie gedehnt, hoffte, Bella würde sich ärgern. Am Tag danach setzte Rosi sich an ihre Nähmaschine, nähte ein langes, fließendes weißes Kleidchen aus einem alten Nachthemd der Großmutter. Setzte goldenes Schleifenband auf Saum und Ärmel. Bastelte goldene Flügel. Immerhin hatte Bella ihrem Sohn die Ritterrüstung besorgt. Das Engelskostüm legte sie am Sonntagmorgen ihrer Tochter auf den Frühstücksplatz. Marie starrte auf die Teile, blickte mit gerunzelter Stirn auf ihre Mutter. Aber ein Engel ist doch silbern! Sie drehte sich empört um, verließ das Zimmer. Rosi lief hinter ihrer Tochter her. Engel können doch alles tragen, sagte sie, enttäuscht, dass sie so gar keinen Anklang gefunden hatte. Sie suchte ihr altes Religionsbuch aus dem Regal, zeigte ihrer Tochter die Seite mit den Schutzengeln. Der sah aus wie ein junges Mädchen mit langen blonden Locken, trug einen goldenen Stirnreif, ein bis zu den Füßen weich fallendes Gewand und große fedrige, weiße Flügel. Er hielt die Arme ausgestreckt über zwei sich aneinander schmiegende Kinder. Marie sah das Bild lange an, sagte dann: Der ist viel zu groß! Das ist nicht meiner! Marie erzählte Olaf von ihrem abendlichen Erlebnis. Der zog gleich sein Schwert, wirbelte es über seinem Kopf. Er soll nur kommen. Dem haue ich den Kopf ab! Marie war entsetzt. Sie hielt von nun an den Mund. Bis auf das eine Mal in der 1. Klasse, im Religionsunterricht. Als die Klasse sich über sie lustig machen würde. Am nächsten Tag begann ihre Sammelleidenschaft. Sie war auf stetiger Suche. Hatte sie eine neue Engelsfigur entdeckt, so stellte sie sie ins Regal und die Suche begann erneut. Aber Marie, du hast doch schon genug, sagte ihre Mutter. Diese Staubfänger! Das ist noch nicht meiner, antworte Marie. Mama, da ist einer bei Antik-Toni im Fenster. Den muss ich noch haben. Ihre Mutter gab nach. Jedesmal. Denn jedesmal hoffte sie, dass mit dieser Figur nun wirklich die letzte ins Haus kam. Doch Maries Blick hörte nicht auf herumzuschweifen. Sie ist auf der Jagd, sagte Rosi zu Bella. Olaf ist jetzt Feuerwehrmann. Ich muss immer aufpassen, dass er nicht den Gartenschlauch anschließt und Unsinn macht. Neulich hat er den Vorratskeller unter Wasser gesetzt. Das Fenster war leider offen, als er die Hauswand löschte... Rosi war für den Moment froh, dass ihre Marie nur Engel sammelte. Sie machte einen kleinen Abstecher zu Antik-Toni um sich dort umzusehen. Als sie nach Hause kam, saß Olaf vor der Tür. Er trug einen Tropenhelm, hielt einen großen Kescher in der Hand. Wohl doch kein Feuerwehrmann mehr, dachte Rosi und sagte: Na, willst du fischen? Nö, das ist doch ein Schmetterlingsnetz, empörte sich Olaf, ich werde Schmetterlingsforscher! Ist Marie nicht da? Offensichtlich nicht, du kleiner Trottel, dachte Rosi, sonst würdest du ja wohl nicht vor verschlossener Tür sitzen müssen. Laut sagte sie: Komm man morgen. Dann kannst du ihr deinen Kescher immer noch vorführen. Oder bist du morgen schon wieder was anderes? Das ist ein Schmetterlingsnetz, kein Kescher! Olaf spuckte aus und verdrückte sich. Am folgenden Nachmittag waren die Kinder für Stunden verschwunden. Erst als die Abendbrotzeit schon lange überschritten war, stürmte Marie ins Haus, an ihrer Mutter vorbei die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Rosi rannte hinterher, sah, wie ihre Tochter den Papierkorb schnappte, mit ausholenden Bewegungen die Engelstatuen hineinfegte. Was ist los? So hatte Rosi ihre Marie noch nie erlebt. Das sind sie nicht! Alle nicht! Marie warf sich auf ihr Bett. Meiner ist tot! Wie... tot? Rosi nahm ihre Tochter in den Arm. Aber die wehrte sie ab. Geh weg! Ich will allein sein! Rosi zog sich zurück. Das wars dann wohl mit den Engeln, dachte sie. Naja, alles hat mal ein Ende... Unten schellte das Telefon. Ist Olaf bei euch? Bella war aufgeregt. Dass der nie pünktlich sein kann! Und dann hat er schon wieder was Neues. Ist jetzt Schmetterlingsforscher. Er ... Rosi unterbrach ihre Freundin. Hier ist er nicht. Ich dachte, er war mit Marie unterwegs. Die ist schon da. Warte, ich frag sie mal... Sie legte den Hörer ab und ging grummelnd nach oben. Hoffentlich hat sie sich beruhigt... Marie hatte sich inmitten der zerrissenen Engelbettwäsche zusammengerollt, nuckelte am Daumen. Marie, warst du nicht mit Olaf weg? Er ist noch nicht zu Hause. Marie nahm bereitwillig den Daumen aus dem Mund. Der ist noch da. Wo...da? Am Bach. Aha, dachte Rosi, konnte wohl nicht genug kriegen vom Schmetterlingsfangen. Da gibts ja auch so viele, bei den Schmetterlingsbüschen. Gute Beutequelle, sagte sie vor sich hin, als sie die Treppe hinunterlief. Bella? Er ist wohl noch am Bach, bestimmt hat er sich bei den Schmetterlingsbüschen vertrödelt." Sommerflieder, verbesserte Bella und legte auf. Gerade als Rosi sich bettfertig machen wollte, klingelte es an der Tür. Mensch Bella. So spät noch. Genervt ging Rosi öffnen. Zwei Polizeibeamte, ein Mann und eine Frau, hielten ihr einen Ausweis hin, entschuldigten sich für die späte Störung. Es ist wichtig. Wir brauchen die Aussage Ihrer Tochter. Sie war doch die letzte, die Olaf lebend gesehen hat. Olaf war tot? Marie hielt den Atem an. Das konnte nicht sein! Oh, mein Gott, was ist passiert? Ist er ertrunken? Er war doch noch am Bach. Wie konnte das passieren? Sie schnappte nach Luft. Der Polizist wollte nichts Genaues sagen, sah die Beamtin an. Sie Mutter hat ihren Sohn tot im Wasser gefunden. Oh, mein Gott! Wo ist Bella? Rosi setzte sich auf die Haustürschwelle. Ihr war übel. Die Beamten sagten etwas zu ihr, aber sie bekam davon nichts mehr mit. Auch nicht davon, dass sie ins Haus getragen, ein Arzt gerufen wurde. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fand sie sich auf der Couch im Wohnzimmer wieder. Ihre Mutter kam herein. Rosi runzelte die Stirn, dachte angestrengt nach. Wo ist Marie? Oben. Rosi schob die Wolldecke beiseite und stand auf. Ihre Mutter wollte sie in den Arm nehmen. Nein. Lass mich. War das erst einen halben Tag her? Rosi stieg die Treppe hinauf in Maries Zimmer. Da lag noch die zerrissene Bettwäsche, stand noch der Papierkorb. Nicht alle Statuen waren darin. Einige lagen umgestoßen in den Regalen oder waren auf den Fußboden gefallen. Marie saß in einem Sessel am Fenster ihres Zimmers, umklammerte ein Marmeladenglas, blickte hinaus. Irgendwo dahinten ist der Bach, dachte Rosi. Sie zog sich einen Stuhl heran, wartete, dass ihre Tochter etwas sagte. So saßen sie beide eine lange Weile und schwiegen Mama, sagte Marie endlich, hier, mein Engel. Olaf hat ihn tot gemacht. Sie streckte ihrer Mutter das Marmeladenglas entgegen. Als Rosi hinsah, entdeckte sie eine wunderschöne Königslibelle. Mit schlankem blausilber glänzendem Körper und schimmernden Flügeln. |
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© 2004 · Mimi·![]() |