Das Jahr ohne Flo
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Sein Kopf bringt ihn um. Oder ER seinen Kopf. Irgendwie so.
Am liebsten würde er ihn gegen die Wand schlagen.
Das Jahr ist drei Tage alt. Der Schmerz auch. Er selbst ist dreißig. Heute. Aber was gibt’s da zu feiern? Und mit wem? Es ist niemand da.
Und wenn, dann hätte er keine Lust. Mit DEM Kopf!!
Klar, er hat sich besoffen. Tierisch. Die blaue Sau, die rote Sau, die schwarze Sau. In der Reihenfolge. Korn mit Wick-blau, Korn mit Wick-rot, Korn mit Lakritz. Und nun muss er büßen. Logisch. Das ist gerecht. Irgendwie.
Wenigstens WAS Gerechtes, denkt er.
Er rafft sich auf und wankt in die Küche. Dort reißt er die Schranktüren auf und wühlt wild darin herum. Fast fällt ihm eine Tasse entgegen. Im letzten Moment fängt er sie auf.
Hmmm...Reaktion gar nicht mal so schlecht. Trotz Schmerz.
Der pocht unerbittlich weiter in seinem Schädel. Kümmert sich um keinen Deut um Erfolg oder Misserfolg. Schon gar nicht bei Tassen.
Er kramt in den Schubladen. Was er sucht, findet er auch dort nicht. So viel zu Erfolgen.
Er dreht den Wasserhahn auf. Lässt das Wasser laufen bis es richtig gut kalt ist.
Hätte er doch nur Eiswürfel gemacht!
Aus einer Schublade zieht er ein Handtuch. Er macht es nass. Wringt es aus. Legt es sich auf die Stirn.
Oder soll er es in den Nacken legen?
Das tut er. Doch der Schmerz pocht weiter. Unvermindert. Klopft, hämmert.
Er hätte die Finger von dem Zeug lassen sollen.
Gut, er war alleine geblieben. Alle anderen waren auf die Hütte gefahren. Er war der einzige, der keine Perle hatte. Ja, und?? Seine Kumpel hätte das nicht gestört. Ihn schon. Musste sie unbedingt einen Tag vor Silvester Schluss machen? Klar, es lief nicht mehr so pralle. Sie ödeten sich an. Eine ganze Weile schon. Aber ER hatte warten wollen. Bis NACH Neujahr. DANN hätte er ihr den Laufpass gegeben. Aber nicht VOR Neujahr. Da lässt man doch niemanden alleine. Der Schmerz pocht beipflichtend im Takt. Un-ge-recht.. un-ge-recht.. un-ge.....rächt.... Ja, Rache. Ohne Rache wird das nicht bleiben. Er wird sich etwas einfallen lassen. Wenn er nur den Schmerz los würde!
Er tapst ins Badezimmer. Vielleicht findet er hier, was er sucht. Als er den Raum betritt, sieht er SICH. Lebensgroß. Seine Haare stehen wild in alle Himmelsrichtungen. Ein Dreitagebart verdeckt viel von seiner weißen Gesichtsfarbe. Seine Schultern hängen kraftlos herunter. Genau wie seine Arme. Die Shorts rutscht um seine Hüften. Er greift danach. Zieht sie hoch. Wieder und wieder. Er stößt auf. Wendet sich ab.
Wo sind die nur....?
Er öffnet das Spiegelschränkchen. Schiebt ein paar Fläschchen beiseite. Nichts. Ihm bleibt nichts anderes übrig als sich anzuziehen.
Der Schmerz bohrt seine Schädeldecke an. Jeder Schritt dröhnt wie eine große Trommel.
Im Schlafzimmer reißt er Kleidungsstücke aus dem Schrank. Socken, eine Hose, ein Sweatshirt. Ein Gegenstand rutscht raus. Fällt auf den Teppichboden. Die Muschel! Wie lange hatte sie danach gesucht! Und da war sie.
Silvester am Meer. Ein Spaziergang am Wasser. Plötzlich glitzerte etwas im Sand. Er hob es auf. Und hatte diese Glasmuschel in der Hand. Sie waren so erstaunt!! Sie nahm die Muschel immer wieder in die Hand. Den ganzen Tag. Und schaute sie an. Wieder und wieder. Und er sah SIE an. Sie konnte sich so freuen!!
Das hat er ganz vergessen!
Nun hämmert sie in seinem Kopf. Sie soll aufhören damit! Nicht ER muss büßen! SIE soll! SIE hat ihn doch sitzen gelassen. Er stopft die Glasmuschel in seine Manteltasche. Verlässt das Haus.
Er ballt die Fäuste. Stapft durch den Schnee. Drückt Schnee zu einer Kugel in seinen Händen. Wirft die Kugel wütend gegen eine Tür. Das dumpfe Plopp springt in seinen Kopf.
Er biegt in die Passage ein. Unter dem Glasdach ist es warm. Ein Leierkastenmann spielt Lieder zum Neuen Jahr. Sein Schmerz singt den Refrain.
Endlich! Er betritt die Apotheke.
Schmerztabletten. Hundert Stück!
Die Verkäuferin sieht ihn fragend an. Sie schiebt eine Zwanziger über den Ladentisch. Mehr darf sie nicht geben, sagt sie. Wofür er denn soviel brauche? Er denkt an SIE. Er zahlt, nimmt die Schachtel und geht. Dann woanders!, denkt er böse.
In der Tür läuft er in eine Gestalt. Entschuldigung, murmelt er. Und steht draußen.
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Dort bleibt er stehen. Um ein Glas Wasser hätte er bitten sollen. Gleich. Und ein oder zwei Tabletten einwerfen. Oder besser drei. Damit der Schmerz endlich verschwindet. Cola dazu wäre noch besser. Die Tabletten wirken schneller. Er weiß das. Aus Erfahrung. Also zum Kiosk.
„Eine Cola“, sagt er.
Drei Tabletten drückt er aus der Folie. Wirft sie in den Mund. Beißt einmal kräftig zu. Setzt die Flasche an die Lippen. Wirft den Kopf nach hinten. Spült die krümelige Masse mit der Cola in den Rachen. Schluckt. Glück gehabt! Die Geschmacksnerven haben die Bitterstoffe kaum wahr genommen.
Einfach warten. Ruhig abwarten. Bald wird es aufhören. Das Bohren in seinem Schädel. Und dann klar denken. Einen klaren Gedanken fassen. Überlegen, was zu tun ist. Er macht sich auf den Heimweg.
Seine Hand umschließt die Muschel. Ganz warm ist sie, denkt er. Sie liegt ganz warm in meiner Hand. Flo...
Es trommelt in seiner Brust.
In seiner Wohnung angekommen wirft er sich auf das Bett. So wie er ist. Noch im Mantel. Die Sonne blendet. Er schließt die Augen. Bunte Farben tanzen vor seinem inneren Auge. Drehen sich spiralig. Rot-Blau-Gelb-Schwarz. Und Gold. Der Stern, denkt er. Der sechszackige Stern! Er springt auf. Wühlt wild in einer der Schubladen. Der Boden ist bedeckt von Socken. Aber da ist er!
Auf seiner ausgestreckten Hand liegt sie. Eine kleine Dose aus Blech. In Sternform. Er öffnet sie. Nimmt den Zettel heraus: Sollten wir uns einmal trennen - wir werden immer Freunde sein. Flo und Paul. Wann hatten sie das geschrieben? Das selbe Silvester am Meer. Als sie die Glasmuschel gefunden hatten. Sie waren sich so nah gewesen. Wenn sie getrennt waren, hatte es geschmerzt. Und wenn es nur für ein paar Stunden war. Es hatte geschmerzt als wäre ihm ein Körperteil abgetrennt worden. Ich sehne mich nach dir, hatte er vor sich hin gemurmelt. Und wenn sie da war, schmerzte es auch. Vor Glück. Er hatte nie zuvor eine solche Bandbreite an Schmerz gekannt. Er hatte nicht gewusst, dass selbst Glück schmerzen kann.
Er merkt, dass sein Kopfweh verschwunden ist. Aber der andere Schmerz ist noch da. Sitzt in seiner Brust. Macht ihm das Atmen schwer. Das Denken. Er nimmt die Glasmuschel aus seiner Manteltasche. Legt sie auf die Konsole. Neben den Stern. Alle anderen Gegenstände räumt er ab.
Er zieht den Mantel aus, macht sich einen Kaffee. Während er in seine Tasse starrt, kommen mehr und mehr Erinnerungen. Die vielen gemeinsamen Stunden haben ebenso viele Bilder in ihm hinterlassen. Nun tauchen sie aus seinem Innersten auf. Veranstalten eine innere Diashow. Zeigen ihm, was er hatte. Was er nicht mehr hat. Quälen ihn. Wollen nicht, dass der Schmerz nachlässt. Und seine Wut. Denn die ist da. Sie pocht in ihm und will heraus. Einen Brief wird er ihr schreiben. Ja, einen Brief!
Kurze Zeit später sitzt er vor einem Blatt Papier. Kaut an einem Stift. Kritzelt drauflos. Liebe Flo... Nein. Er nimmt ein neues Blatt. Flo...
Als er fertig ist, liegt der Boden voller Papier. Jedes zerknüllt, zerknautscht, geballt zu einem unförmigen Etwas. Aber - der Brief ist fertig. Seine Wut liegt um ihn herum. Verstreut. Der Raum stinkt nach Zorn.
Er steckt den Brief in den Umschlag. Leckt die Verschlusskante. Klopft sie fest. Klebt eine Marke auf. Streicht mit der Handfläche drüber. Der Brief pulsiert unter seiner Hand. Wie das Blut in seinen Adern. Er nimmt ihn. Stellt ihn zwischen die beiden Devotionalien auf der Konsole.
Morgen gehst du auf deinen Weg, sagt er.
Es ist dunkel geworden. Draußen fällt frischer Schnee. Der einarmige Rentner von gegenüber macht seine Runde mit dem Hund. Eine junge Frau spricht ihn an. Sie unterhalten sich eine Weile. Flo...! Sie schaut hoch. zu seinem Fenster. Dann eilt sie zur Bushaltestelle. Enttäuscht schließt er die Augen. Der Schmerz klopf wieder in seinem Kopf. Er holt die Tabletten.
Es ist Morgen. Ein Sonnenstrahl kitzelt seine Nase. Er erwacht. Räkelt sich. Sieht auf die Uhr. So spät schon!!?! Aber warum eilen. Niemand wartet. Doch! Der Briefkasten. Er muss den Brief einwerfen.
Er schlurft ins Bad. Zieht seinem Spiegelbild Grimassen. Ätsch! Kein Kopfschmerz mehr! Kein Herzschmerz mehr! Gar kein Schmerz mehr! Nie mehr! Sie kriegt den Brief. Und fertig. Neues Spiel - neues Glück!
Denkst DU, sagt sein Spiegelbild.
Er kraust die Stirn.
Du hast noch die Muschel, sagt sein Spiegelbild. Und den Stern. Was hast du NOCH?
Nix, sagt er.
Du hast einen Schrein, sagt sein Spiegelbild.
Zur Warnung, sagt er.
Pffff, macht sein Spiegelbild.
Er streckt die Zunge raus.
Dann stapft er ins Schlafzimmer. Steigt in seine Kleidung. Schnappt seinen Mantel. Und den Brief.
Auf der Straße trifft er den Rentner.
„Moin“, sagt er.
„Moin-moin.“ Der Rentner pfeift nach seinem Hund.
„War das Flo?“, fragt er.
„Hmm“, macht der Rentner.
„Geht’s ihr gut?“, fragt er.
„Wem?“
„Flo.“
„Wer ist Flo?“
„Meine Freundin. Naja, nicht mehr. Sie wissen doch. Sie hat hier gewohnt.“
„Ah ja, die Blonde, näch?“
Er runzelt die Stirn. „Hmm... brünett. Manchmal rote Strähnen. Und? Geht’s ihr gut?“
„Hab se nich gesehn.“
„Doch. Gestern Abend. Die junge Frau. Hat doch mit Ihnen geredet. Hab’s gesehn. Von oben.“
„Die war blond. Hat nachm Weg gefragt.“
„Hmm.“ Er schweigt betroffen. „Ja, dann... Wünsch Ihnen was.“
Der Hund reibt sich an seinem Bein. Er grinst und schiebt ihn mit dem anderen Fuß von sich. Hat wohl auch keine Freundin, denkt er.
Der Rentner setzt sich in Bewegung. Sein Hund schnüffelt noch kurz und rennt dann seinem Herrchen nach.
Am Briefkasten trifft er auf die Frau. Sie hat die Hände tief in ihrer alten Jacke und beäugt ihn misstrauisch. Zieht dann einen Brief heraus. Sie wirft ihn hastig ein, sieht ihn noch einmal an und eilt davon.
Der Geruch kommt mir bekannt vor, denkt er. Typischer Altweibergeruch. Nachdenklich wirft er seinen Brief ein.
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Morgen geht’s wieder zur Arbeit, denkt er. Noch n schönen Tag machen heute. So richtig abhängen. Jaaaa... Er seufzt.
Er steckt seine Hände tief in die Manteltasche und stapft in Richtung Markt.
Ein junger Mann taucht plötzlich vor ihm auf. Haut ihm freundschaftlich auf den Oberarm.
„Hey, Paule, alte Socke! Na, wie biste ins Neue gekommen? Siehst irgendwie....... scheiße aus. Wärste man mitgefahren. War echt geil. Alk bis zum Abwinken. Sogar die Weiber. Lisa is vielleicht ne Nummer! Hat gestrippt. Meine Güte. War geil. Echt.“
Er lacht laut, schlägt Paul erneut auf den Arm.
„Hmm. Saufen hatte ich auch. Man, hatte ich n Kopp...“ Paul knetet seine Hände.
Der andere nickt vor sich hin.
„Sieht man noch.“ Er lacht. „Bis jetzt nicht rasiert, wa? Oder lässte dir n Bart wachsen... Naja, mal was Neues.“ Er macht erwartungsvoll eine Pause, aber von Paul kommt keine Reaktion.
„Was is?“, schlägt er deshalb vor, „gehn wir zum Gorilla?“
Er zieht Paul am Ärmel, steuert die Gorilla-Bar an.
„Ey, Paule, Homer. So früh am Tag?“
Der Mann hinter der Bar schiebt unaufgefordert einen Wodka vor die Hereingekommenen.
„Mensch, Paule, was siehste schlecht aus! Hamse dich krank gemacht auf der Hütte?“ Er grinst.
„War gar nicht mit.“
„Wie... nich mit... echt? Krank gewesen? Hastn gehabt? Grippe?“
Er guckt Paule mit übertrieben prüfend zusammengekniffenen Augen an.
„Jaaaa, schlecht siehste aus.“ Er nickt. „Echt schlecht.“
„Lass ma, Gorilla“, sagt Homer, „Flo is wech.“
„Neeee...“ , Gorilla zieht das Wort und lässt es in der Luft hängen. Er greift zum Geschirrtuch und trocknet Gläser.
Paul und Homer kippen ihren Wodka.
Eine fast peinliche Stille hängt in der Luft.
„Neeee...“, sagt Gorilla dann noch einmal und gießt einen weiteren Wodka ein.
Hinter Paul’s Stirn meldet sich das Klopfen. Er legt einen Schein auf die Theke.
„Muss los“, murmelt er
Gorilla schiebt ihm das Geld zurück.
„Geht aufs Haus.“
Paul flieht. Er will nicht zuhören, falls Homer erzählt. Sollen die Zwei doch quatschen... Paul und Flo. Flo und Paul. Paul ohne Flo...
Das ist ja auch wichtig. An seinen Geburtstag gedacht haben sie NICHT!!
Nun DRÖHNT sein Kopf.
Ziellos treibt es ihn voran. Einfach nur laufen. Flo aus dem Kopf laufen. Und ER dachte, er hätte sie sich aus dem Leib geschrieben...
Am Fluss steht ein Mann und füttert die Enten. Dick haben sie sich aufgeplustert gegen die Kälte, picken eifrig nach den Krumen.
Als Paul näher kommt, erkennt er den Gemeindepfarrer. Dass er Zeit hatte, die Enten zu füttern! Oder haben Pfarrer AUCH Urlaub?
Er sieht nicht gut aus, denkt Paul. Wie in sich verschwunden. Entrückt von aller Welt. Eigentlich wie ich. Ob ich ihn ansprechen soll?
Als hätte er ihn gehört, schaut der Pfarrer auf, hebt die Hand und winkt. Für einen winzigen Moment erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Paul grüßt wortlos zurück. Er bewegt nur seine Lippen, dass der andere merkt, dass er reagiert. Aber der hat sich längst wieder den Enten zugewandt. Ist längst wieder in sich zurückgekrochen. Macht deutlich, dass er keine ansprache wünscht.
Paul verharrt. Beobachtet ihn bei seinem Tun. Sieht sich plötzlich selbst dort stehen. In sich verschwunden. Weg vom Jetzt.
Der, der die Enten füttert, denkt er und ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht.
Aber will er das wirklich?
Ein Tag an der See – oder eine Woche! DAS täte mir gut! DAS tun und dann einen neuen Anfang starten!
Der Gedanke überrascht ihn. So spontan etwas unternehmen? Das war sonst immer Flo, der so etwas einfiel. Aber warum eigentlich nicht?
Entschlossen stapft er zum Bahnhof.
Dort im Herrenklo setzt er sich auf die Schüssel und durchforscht in Ruhe seine Geldtasche. Ausweis, Kreditkarte, ein paar Scheine, etwas Kleingeld. Was will er mehr? Beim Kramen fallen ihm seine Tabletten in die Hände.
Ja, die auch noch, denkt er.
Dann verlässt er die Kabine.
Eine ältere Dame steht mitten im Vorraum und sieht ihn entgeistert an. Sie kneift die Augen zusammen als wollte sie sagen: Was machen SIE denn hier?
„Nein, nein“, stammelt er, „dies ist die Herrentoilette!“
Sie reißt die Augen auf, dreht sich vehement auf dem Absatz um und verlässt fast panisch den Raum. Beim Hinausstürmen fällt etwas scheppernd zu Boden.
Er bückt sich, hebt es auf, hält es auf seiner ausgestreckten Hand in Richtung Tür, die eben ins Schloss fällt.
„Hier, Sie haben etwas verloren“, ruft er und eilt ihr nach. In der Bahnhofshalle schaut er sich nach ihr um. Aber sie ist nicht zu sehen. Ein Hauch von Lavendel hängt in seiner Nase.
Irgend woher kenn ich das, denkt er. Typischer Altweibergeruch.
Er schaut nun den aufgehobenen Gegenstand genauer an. Auf seiner flachen Hand liegt ein kleiner, grasgrüner Plastikfrosch. Mit einem Metallstreifen auf der Rückseite.
„Ah!“ Er erinnert sich. Man drückt auf das Metall und der Frosch gibt ein knackendes Geräusch von sich.
Eine Durchsage unterbricht seinen Gedankengang.
„Reisende nach Kleinensiel mit Anschluss an die Fähre nach Hemmeloog möchten sich bitte auf Gleis 4 einfinden. Ihr Zug steht zur Abfahrt bereit.“
Paul setzt sich in Bewegung.
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Später auf der Fähre starrt er über die Reling aufs Fahrwasser. Von der Schiffschraube aufgeschäumt und Richtung Festland zurückgetrieben. Ihm fällt ein, dass er sich nicht von der Arbeit abgemeldet hat.
Er greift nach seinem Handy in der Innentasche seines Mantels.
„Eine Kurzmitteilung empfangen“, steht dort.
„Flo! Sie hat den Brief.“
Aber natürlich kann das nicht sein. Er hat ihn ja erst am Morgen eingeworfen.
„Hey, du Ratte. Wo biste hin ? Steh bei dir vor der Tür.“ Es ist Homer.
Er hat kein Lust auf Erklärungen. Drückt die Mitteilung weg. Wählt die Nummer seiner Arbeitstelle.
Eine kranke Mutter... er muss sich kümmern... ja MUSS sein.. ein paar Tage.. ja, hole die Stunden zur Not nach... ja..
Erleichtert steckt er das Handy weg. Niemand hat groß nachgefragt. Oder die Hintergrundgeräusche erwähnt. Möwengeschrei. Motorengeräusch.
Beides wird gerade lauter. Sie haben die Insel erreicht.
Als er das Land betritt, weht ihm eine Feder vor die Füße. Er hebt sie auf und betrachtet sie. Keine Möwe. Soviel weiß er. Ein Greifvogel? Er sieht sich um.
Ungewöhnlich, denkt er. Um diese Zeit.
Als er erneut auf die Feder blickt, hat er plötzlich ein Bild vor Augen.
Solche Federn lagen dort auch. Ein paar. Zwischen den vielen anderen, die der Wind über die Wiese trieb. Die Wiese, auf der die Hühner ihren Auslauf hatten. Eines Morgens war er hinausgegangen und die Wiese war weiß wie Schnee. All die vielen kleinen weißen Federn! Und dazwischen einige große. Wie diese hier in seiner Hand. In der hintersten Ecke der Wiese fand er dann diesen Klumpen. Federn an Resten von Fleisch. Und getrocknetes Blut.
„Oma! Oma!“, war er schreiend ins Haus gelaufen. Wie alt war er? Fünf?
„Ein Raubvogel“, hatte seine Großmutter gesagt. „Das passiert eben mal. Der eine frisst eben den anderen.“
Und er selbst stand da und fühlte den Schmerz, den das Huhn erlitten haben musste. Körperlich. Sein Kopf hämmerte wie wild.
Er ballt seine Faust. Es knackt leise. Als er die Faust öffnet ist die Feder gebrochen. Angewidert wirft er sie von sich.
Mit dröhnendem Schädel stapft er los, sich ein Quartier zu suchen.
Spät am Abend findet sich Paul in der Inselkneipe ein. Er hat einen ausgedehnten Gang am Meer hinter sich. Der Strand ist vom Vollmond gut beleuchtet. Der Wind hat an ihm gezerrt. Die Kälte in sein Gesicht geschnitten. Das gleichmäßige Lied der Wellen ihn eingelullt.
Nun sitzt er bei den Einheimischen, die sich auf einen Grog und ein Pfeifchen hier eingefunden haben und ihn sofort in ein Gespräch verwickeln. Hier kann er erzählen. Diesen Fremden. Und alle haben ein offenes Ohr. Nicken, als hätten sie alles schon einmal das gleiche erlebt.
„Jungchen“, ein alter Mann mit ledernen Falten im Gesicht klopft ihm liebevoll auf den Rücken, „glaub mir, das wird wieder.“
„Jau“, brummt der Rest imChor.
Paul fühlt sich gut.
Später, in seinem kleinen Zimmer, fällt er in erholsamen Schlaf. Weiß, dass er am nächsten Tag zurückfahren wird. Zurückfahren KANN.
Kurz bevor er die Fähre betritt, weht ihm eine Feder an den Mantel. Eine kleine weiße.
Er lächelt. Legt sie auf seine ausgestreckte Hand. Hält sie hoch. Wartet bis der wind sie ergreift und mitnimmt.
Ende April hat die Sonne sich endlich entschieden, die Erde ihre Kraft ein paar Stunden länger als sonst spüren zu lassen.
Sie hat die Menschen aus ihren Häusern gelockt. Die Innenstadt wimmelt. Vor den Lokalen am Markt sind Tische und Stühle aufgestellt worden. Auch vor der kleinen Konditorei.
Paul sitzt dort, genießt die Spätnachmittagssonne nach der Arbeit, trinkt einen Kaffee. Gorilla winkt von seiner Bar herüber und winkt mit dem Finger: „Komm!“
Paul schüttelt den Kopf.
„Was Gorilla wohl denken wird. Ich in einer Konditorei...“ Paul muss selbst grinsen.
„Draußen nur Kännchen.“ Eine junge Frau tippt auf seine Schulter, lacht ihn an als er sich umdreht.
„Ah! Da bist du ja! Hi!“ Paul deutet auf den freien Stuhl an seinem Tisch und winkt nach der Kellnerin, damit Flo bestellen kann.
„Na, wie schaut’s?“
„Ganz gut“, sagt sie. „War ja bis letzte Woche bei meiner Tante.“
„Hmm. Hab ich gehört. Hast ja nie auf meinen Brief geantwortet. Nicht gekriegt? War ganz erstaunt gestern über deine sms.“
„Doch. Hab den Brief gekriegt. Haben meine Eltern nachgeschickt. Warst ganz schön wütend. N Haufen Vorwürfe drin. Was hättstn DU gemacht? Ich weiß ja, wie weh das tut. Mir ging’s nicht viel besser als dir. Vielleicht nur anders. Naja....“ Sie macht eine Pause. Wartet, ob er etwas sagen will. Als nichts kommt, spricht sie weiter.
„Wie geht’s dir JETZT?“
„Hmm. Geht so. Naja, nicht so schlecht mehr. Haste n Neuen?“
„Nee. Und du?“
„Nee.“ Er rührt in seiner leeren Kaffeetasse.
Eine Frau von der Heilsarmee geht von Tisch zu Tisch und verteilt kleine Flyer. Sie drückt auch Flo einen in die Hand. Schaut dann Paul an und sagt: „Sie gehören ja wohl zusammen...“
Paul schüttelt den Kopf. „Sieht das so aus?“, fragt er.
„Eigentlich schon, junger Mann“, sagt die Frau, „ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Dann zwängt sie sich weiter durch gefüllten Tischgruppen.
„Siehst du“, sagt Paul, „wir geben ein schönes Paar ab.“ Er kann den Hauch Sarkasmus darin nicht leugnen.
„Aber es sollte ja wohl nicht sein.“
Ganz leise sagt er das. Und spürt wieder ein bisschen Klopfen hinter seiner Stirn.
„Das hatte ich schon lange nicht mehr“, denkt er. „Seit ich von der Insel zurück bin nicht.“
Er sieht Floh an. „Und die Arbeit?“
„Gekündigt. Hab mir dann was bei meiner Tante gesucht. Erst nur gejobbt, jetzt was Festes. Nehm mir ne Wohnung. Bin hier um meine Sachen zu holen. Von meinen Eltern. Und von dir. So’n paar Dinge müssen bei dir noch sein.“
Er hat nie darüber nachgedacht. Immerhin waren sie fast zwei Jahre zusammen in seiner Wohnung. Und nachdem sie Schluss gemacht hatte, stand sie gleich mit ihren Eltern auf der Matte und hatten ihren Kram geholt. Ob da noch was war? Vielleicht CDs und so.
„Deshalb also wolltest du mich sehen?“
Es klingt enttäuscht.
„Naja, ich wollte schon auch wissen, wie es dir inzwischen geht.“ Sie lächelt verlegen und sieht ihn lange an. Seine Miene bleibt unverändert.
Dann sagt sie traurig:„Wir haben halt nicht zusammen gepasst.“
„War wohl so“, murmelt er. Er weiß ja, dass sie Recht hat. Trotzdem nagt noch immer an ihm, dass SIE es war, die gegangen ist. Dass SIE den Mut hatte. Ja, Mut. Plötzlich sieht er, dass Mut dazu gehört hat. Etwas aufgeben. Etwas Neues beginnen. Warum hatte ER nicht...
Er wühlt in seinem Rucksack und zieht eine kleine Schachtel heraus.
„Hast du Kopfweh?“, fragt sie.
„Das kommt manchmal“, sagt er. „Wann willst du vorbeikommen?“
„Ich bleibe noch eine Woche. Du kannst ja Bescheid geben, wann es dir am besten passt.“
Er nickt, nimmt eine von den Tabletten und bestellt sich eine Cola.
„Immer noch mit Cola“, stellt sie fest und grinst ein bisschen. Dann steht sie auf. „Ich muss jetzt los“, sagt sie dann und winkt nach der Kellnerin.
„Lass mal“, sagt er, „ich mach das schon.“
„Danke“, sagt sie, „und ich meld mich dann, ja?“
Plötzlich bückt sie sich und küsst ihn auf die Stirn. „Bis dann.“
Als sie ein paar Meter gegangen ist, dreht sie sich noch einmal um und winkt.
Er bleibt verwirrt zurück. Hinter seiner Stirn fechten eine Mischung aus Zorn, Neid und Zuneigung einen Kampf aus.
„Noch auf ein Bier zum Gorilla“, denkt er.
Als er bezahlt, tritt eine ältere Dame in Begleitung eines Kleinwüchsigen an seinen Tisch. Ein kleiner Hund wuselt ihnen um die Beine.
„Wird hier frei?“ Die Frau trägt ein keckes Hütchen zu ihrer ältlichen Kleidung und bückt sich kurz um den Hund zu streicheln. „Nun mal ruhig, Foxi“, sagt sie. „Frauchen ist doch da. Und Pippo auch.“
Trotz ihrer unmodischen Kleidung hat sie was, denkt Paul, wie sie da neben diesem kleinen Kerl steht. Und der Kleine hat auch was. Ob die Frau von der Heilsarmee da auch sagen würde: Sie gehören doch sicher zusammen.
„Bitte schön“, sagt Paul übertrieben galant und deutet auf die Stühle. Dann steht er auf. Ehe er geht, fällt ihm plötzlich etwas auf.
„Kennen wir uns nicht?“, sagt er zu der Frau. Er überlegt. Der Duft!, fällt ihm auf. Er kennt den Duft!
„Wir haben uns auf dem Bahnhofsklo gesehen! Sie hatten sich in die Herrentoilette verirrt!“ Er strahlt Sie an. „Sie sind fluchtartig raus und haben dann was verloren!!!“
Er sieht wie die Frau rot wird und den Kopf senkt.
„Nee, nee, das muss Ihnen nich peinlich sein. Das passiert doch jedem mal.“
Der Kleinwüchsige sieht sie an und flüstert beruhigend auf sie ein.
Sie hebt den Kopf und betrachtet ihn misstrauisch.
„Ich habe etwas verloren?“
„Ja, so einen kleinen Plastikfrosch.“
„Oh, Fred. DA ist er geblieben!“ Sie strahlt. „Ich habe ihn schon aus meinen Kindertagen.“ Ihr Gesicht wird traurig. „Schade. Er ist eine so schöne Erinnerung gewesen.“
„Aber Sie können ihn wieder haben.“ Paul verspürt plötzlich eine große Lust, diese Frau glücklich zu sehen. „Ich habe ihn aufgehoben. Allerdings ist er bei mir zu Hause.“
Sie schaut ihn abwartend an.
„Wenn Sie wollen, bring ich ihn vorbei. Oder Sie kommen zu mir“, fügt er hinzu, als er sieht, dass sie ihn misstrauisch beäugt.
Der Kleinwüchsige flüstert ihr etwas zu.
„Ja“, sagt sie. „Das geht. Werfen Sie ihn mir doch in meinen Briefkasten.“
Sie tauschen ihre Adressen aus.
Als Paul zu Gorilla rüber geht, folgt ihm der Hund.
„Hey, du Töle“, sagt er, „geh mal schön zu deinem Frauchen.“ Dann sieht er den Rentner aus seiner Nachbarschaft mit seinem Hund an der Ecke stehen. Foxi wetzt an ihm vorbei. Schnurstracks auf den Hund zu.
„Aha“, sagt er grinsend. „Du bist wohl ein Weibchen, was?“
---5
Flo meldet sich ein paar Tage später. Früh morgens. Vor der Arbeit.
Er taucht die Rolle in den Farbeimer und streicht sie auf dem Sieb ab. Eine Wand noch. Dann ist Feierabend.
Was sie wohl noch in seiner Wohnung findet? Ein paar CDs, ein T-shirt, einen Gürtel hat er schon bereit gelegt. Mehr sollte da nicht sein. Schließlich hat sie ja gleich alles abgeholt. Damals... Damals? Schon so lange her? Ein halbes Jahr doch nur. Hmm..
Da sind noch die Glasmuschel. Und die kleine Sterndose.
Aber die gehören zur Hälfte mir, denkt er. Die hat er versteckt. Und wenn sie nicht danach fragt, wird er sie nicht rausrücken.
Der grüne Plastikfrosch fällt ihm ein. Er will ihn heute endlich abgeben. Auf dem Weg von der Arbeit. Wie er die ältliche Dame einschätzt - wie hieß sie noch gleich? ach ja, Müller, wie kann man das vergessen...- sie hält sicher auf Pünktlichkeit, Einhalten von Versprechen und wartet schon.
Zum Glück keine Überstunden heute, denkt er. Könnt sonst knapp werden bis Floh kommt.
Dann wird es doch noch eng. Sein Meister taucht auf und will den nächsten Tag besprechen.
Er muss sich sputen. Und so klingelt er nicht, wie er es eigentlich vorhatte. Er steckt den Frosch in den Briefkasten und hastet nach Hause.
Dort springt er schnell unter die Dusche. Nebelt sich mit Deo ein. Vor dem Spiegel hebt er die Arme, schnüffelt an den Achseln.
Er bemerkt, was er tut. Grinst.
„Na, wer weiß“, sagt er zu seinem Spiegelbild. Das streckt ihm die Zunge raus. Schüttelt spöttisch den Kopf.
Er überlegt, ob er etwas zu essen vorbereiten soll. Entscheidet sich dann aber für Cappuccino. Kramt die Maschine dafür oben vom Schrank.
Wann hab ich das letzte Mal..., klar, da war Flo noch da. Viel zu umständlich eigentlich das Ding. Cappu aus der Tüte. Viel einfacher. OK, nicht so gut. Aber reicht für mich. Und meine Kumpels trinken eh lieber Bier.
Soll ich sie schon mal anschmeißen? Na, wer weiß, ob Flo pünktlich ist...
Flo IST pünktlich. Flo war IMMER pünktlich.
Flo hat sich sogar pünktlich getrennt, sinniert er er bitter.
Es klingelt. Und da steht sie. Er erfasst ihre Gestalt mit einem einzigen Blick. Schlank, knackig, glänzende braune Haare.
„Kann ich reinkommen?“ Ihre Stimme zittert.
„Ja. Klar. Komm rein. Du kennst dich ja aus.“ Er streckt seinen Arm einladend in Richtung Wohnraum. „Cappuccino?“
Sie geht schnurstracks ins Zimmer, bleibt dann stehen.
Da sieht er, dass sie kreideweiß ist. Sie hält einen Karton in den Händen. Auf Armeslänge vor dem Körper.
Der Karton hat Löcher im Deckel. Eine Schnur ist mehrfach rumgebunden. Flo stellt ihn auf den Tisch und lässt sich auf die Couch sinken.
„Was ist los?“, fragt er.
Im Karton raschelt etwas.
„Das da“, sagt sie, „stand in meinem Auto. Auf dem Fahrersitz. Eben. Als ich los wollte.“ Sie schluchzt beinahe. „Wer macht sowas? Ich war doch nur noch mal kurz im Haus. Hatte die Wagentür auf gelassen....“
Er blickt sie fragend an.
„Die Schnur hab ich drum gemacht. Damit sie nicht raus kann. Was mach ich jetzt damit? Polizei? Zoo?“
„Was ist es denn“, fragt er. Greift nach dem Karton. Beginnt die Schnur zu lösen.
„Nicht!“ Sie schreit beinahe.
Fast hätte er den Karton fallen lassen.
„Ja, um Himmels Willen, Flo, was ist denn drin?“
„Eine Schlange!“ Angeekelt verzieht sie das Gesicht. „Eine Schlange! Wer macht denn sowas? Wer stellt mir eine Schlange ins Auto?“
Ganz klein sieht sie aus, denkt er. So wie sie da sitzt. Wie in sich verkrochen. Wie eingelaufen...wie...
„Vielleicht war sie gar nicht für dich“, sagt er.
Plötzlich spürt er einen Funken Genugtuung in sich aufflackern.
Sie ist verletzbar, denkt er. Sie ist ja verletzbar.
„Ich nehme sie“, sagt er. Strafft die Schultern. „Keine Panik, Flo. Du kannst sie hier lassen.“
„Sollten wir nicht die Polizei...?“
„Ach was! Ich wollte schon immer eine Schlange. Lass sie hier. Ich kauf mir ein Terrarium.“
Er nimmt den Karton und stellt ihn auf die Kommode. Dreht sich um zu ihr.
„OK?“
Sie nickt. Unsicher.
„Und nun mach ich uns den Cappuccino. Maschine ist schon bereit.“
Wie im Triumphzug macht er sich auf Richtung Küche. In der Tür dreht er sich zu ihr um.
„Kannst ja schon mal gucken.“
Sie reißt die Augen auf. Sieht ihn entgeistert an. Schüttelt vehement den Kopf.
„Ich will sie nicht mehr sehen.“
„Flooooooo.“ Er spöttelt. „Nicht die Schlange. Deine Sachen. Deshalb bist du doch hier? Oder? N bisschen was liegt da schon.“ Er zeigt auf einen kleinen Haufen auf dem Fußboden.
Später will er das Tier endlich sehen.
Flo ist nicht lange da gewesen. Sie hat schnell den Cappuccino getrunken, sich einmal flüchtig umgesehen, die Sachen geschnappt, die er schon bereit gelegt hatte, und ist gegangen.
Geflohen, denkt er. Und lacht.
„Alles deinetwegen“, sagt er zu dem Karton. Er beginnt die Schnur zu lösen. Hält dann inne.
„Wohl doch besser erst das Terrarium besorgen. Wer weiß, was du für eine bist. Also bleib mal hübsch drin bis ich morgen von der Arbeit zurück bin. Luft haste ja.“
Der Karton antwortet mit einem Rascheln.
Als er am nächsten Tag den Baumarkt betritt, steht dort –gleich hinter der gläsernen Automatiktür- die Frau von der Heilsarmee und redet mit dem Pfarrer. Er erkennt sie sofort. „Sie gehören ja wohl zusammen“; er hatte es noch genau im Ohr.
Ob sie mich auch erkennt? Sie verzieht keine Miene. Der Pfarrer auch nicht. Er flüstert der Frau noch etwas zu und geht dann.
Als Paul an der Frau vorbei kommt, greift sie mechanisch in einen Leinenbeutel und drückt ihm einen Gegenstand in die Hand.
„Heute keine Flyer?“, fragt er und guckt auf das kleine runde Döschen.
„Reste von Ostern“, sagt sie. „Duftkerzen. Vanille.“
Dann erkennt sie ihn doch.
„Ah! Ihre Frau ist nicht dabei?“ Sie nickt. Und schmunzelt ein wenig.
„Baumarkt“, sagt sie, „nichts für Frauen, hmm?“ Sie zeigt auf das Döschen. „Kleines Präsent für Ihre Frau.“
Auf der Dose ist ein Hase abgebildet. Mit Ei. Und kleinen Herzchen. ‚Ei love you’, steht drauf.
„Das war nicht... .“ Er will richtig stellen, das er keine Frau hat. Bricht dann aber ab. Sie hat sich bereits einem neuen Kunden zugewandt.
Er zuckt die Schultern. Geht weiter. Steckt Hände und Döschen in die Hosentaschen.
Plötzlich tippt ihm jemand von hinten auf den Rücken.
„Hallo. Junger Mann. Jetzt habe ich doch Ihren Namen vergessen.“
Er dreht sich um.
„Oh. Sie? Aber das macht doch nichts. Freese. Aber Sie können auch Paul sagen. Ist bestimmt leichter zu merken.“
Er sieht sich um.
„Wo haben Sie denn Ihren Hund gelassen? Und Ihren...“, er macht eine Pause, ...Freund?“
„Oh.“ Sie kichert wie ein kleines Mädchen. „Pippo meinen Sie. Er ist unterwegs.“
Sie neigt sich ihm entgegen und flüstert wichtig.
„Er ist doch beim Zirkus, müssen Sie wissen. Und Foxi? Der ist draußen.“
Ihr Gesicht verdüstert sich.
„Hunde dürfen doch nicht rein.“ Ein wenig Empörung schwingt in ihrer Stimme.
Dann hellt sich ihr Gesicht wieder auf.
„Danke für Fred.“
„Sie haben ihn also gefunden. Ich wollte ja eigentlich klingeln, aber dann... Ich hatte es eilig.“
„Hauptsache, er ist wieder da. Schön, dass Sie es nicht vergessen haben. Die jungen Leute heutzutage....“ Sie beendet den Satz nicht, aber er grient innerlich. Hatte er sie doch richtig eingeschätzt!
Sie blickt ihn neugierig an.
Richtig keck, wie sie dieses Hütchen trägt, denkt er. Obwohl... eigentlich wirkt sie trotzdem schüchtern... und ein bisschen misstrauisch ist sie auch immer noch. Ja, was denn nun? Soviel zu seiner Menschenkenntnis. Er dachte an Flo.
„Was wollen SIE denn hier im Baumarkt?“, fragt sie. Seltsam. Er hätte erwartet, dass sie sich schnell verabschieden würde. Und nun zettelt sie ein Gespräch an.
Das mit der Schlange möchte er ihr lieber nicht auf die Nase binden.
„Und SIE?“, fragt er deshalb zurück.
Gegenfrage lenkt ab, denkt er.
„Ich habe zuerst gefragt“, sagt sie höflich.
„Ganz schön clever, die Alte“, denkt er.
„Muss in die Kleintierabteilung. Ein Terrarium besorgen. Für...“, er überlegt, „...Eidechsen. Mein Neffe hat welche“, fügt er hinzu als sie nichts entgegnet..
Nach einem Moment nickt sie. „Ich brauche Werkzeug. Für Pippo. Er hat mir eine Liste geschrieben. Er will Foxi ein Häuschen bauen.“ Sie strahlt.
Ob sie wohl auch schwindelt?, denkt er. Wohl kaum. Unwahrheiten traut er ihr nicht zu. Eigentlich schön, denkt er, dass es das noch gibt. WENN es das noch gibt.
„Vielleicht kommen Sie ja mal vorbei“, sagt sie. „Wenn das Häuschen fertig ist. Auf eine Tasse Tee. Als Dank. Für Fred.“
Ihr scheint etwas einzufallen.
„Wenn Pippo da ist“, fügt sie hinzu.
Er nickt. „OK. Aber nun muss ich mal machen.“
Er reicht ihr die Hand. Dabei zieht er die Dose mit aus der Tasche.
„Möchten Sie? Duftkerze. Ich nehme die nicht.“
Sie lacht. Fasst in ihre Jackentasche und zeigt ihm einen Gegenstand.
„Ich hab schon eine!“
„Nun haben Sie zwei!“, lacht er zurück und legt ihr sein Döschen dazu.
Dann nickt er noch mal und geht zielstrebig den Gang hinunter.
In der Kleintierabteilung fällt ihm ein Buch in die Hand: Schlangen dieser Welt. Er blättert darin und stößt einen scharfen Pfiff aus.
Ui! Ganz schön viele. Und ne Menge davon giftig, denkt er. Was für eine ich wohl habe? Womöglich ne Blindschleiche.
Er lacht. Denkt an Flo und ihre Angst.
Er kauft das Buch.
Nur für den Fall, dass ich das Biest nicht kenne, denkt er. Was fressen solche Viecher eigentlich? Mäuse? Hab ich nicht! Mal gucken, was das Buch sagt. Bis dahin muss der Supermarkt herhalten.
Der liegt gleich um die Ecke. Er kauft ein, dann trinkt er noch einen Kaffee im Stehen. Und blättert in der Zeitung.
Was es nicht alles gibt, denkt er.
---6
Paul lädt das Terrarium in sein Auto. Verstaut die Einkaufstüten. Sein Blick schweift über den Parkplatz. Zufällig. Oder doch nicht?
Eigentlich sucht er die alte Dame. Ob sie noch irgendwo hier rumläuft?
Er stutzt. Ist das nicht Flo? Er winkt.
Sie steht an einem grünen VW. Beugt sich zum Fenster runter. Redet mit dem Fahrer.
Paul ruft ihren Namen laut über den Parkplatz. Fuchtelt mit den Armen. Sein Ruf bleibt ungehört.
Unerhört.
Ein junger Mann steigt aus. Legt seine Arme um Flo. Führt sie Richtung Einkaufscenter.
War das nicht Gorilla?
Das kann nicht! Paul kneift die Augen zusammen. Seine Augenbrauen bilden eine düstere Linie. Nein! Er weist den Gedanken von sich. Der kehrt postwendend zurück. Macht sich breit hinter seiner Stirn.
Wär sie doch verreckt mit ihrer Schlange!!
Wer sonst hat so lange schwarze Haare? Gut, Gorilla trägt sie immer zum Zopf. Aber die Kleidung! Dunkel! Eindeutig Gorilla! Und war da nicht ein Tattoo auf seinem Arm? Gorilla und Flo... Der Gedanke nagt in ihm. Aber sie hat doch gesagt... Noch vor ein paar Tagen hat sie gesagt, sie hat keinen Neuen. Das ging dann ja verdammt schnell!
Was mache ich da eigentlich, denkt er nun. Habe ich mir von dem Wiedersehen etwas versprochen? Oder ärgere ich mich, dass sie gelogen hat. Sie hat noch nie gelogen. Was immer sie gemacht hatte, vertrauen konnte er ihr doch. Oder nicht?
Wütend tritt er gegen den Autoreifen. Reißt die Fahrertür auf. Knallt beim Einsteigen mit dem Knie gegen das Lenkrad.
Mist!
Fluchend reibt er den Schmerz. Schlägt wütend auf das Steuer ein.
Mist! Mist! Mist! Die blöde Kuh! Kann sie wiederhaben, ihre Schlange. Soll sie doch sehen, wie sie damit klar kommt!
Er schlägt erneut auf das Lenkrad ein. Und im Takt dazu schlägt der Zorn die Pauke hinter seinen Schläfen.
Keine Kopfschmerzen! Keine Kopfschmerzen!
Gerade noch rechtzeitig erinnert er sich. Nicht negativ! Positiv!
Also: Mir geht es gut. Mein Kopf ist frei!
Mist! Der Doc hat gut reden.
Mit gesenktem Kopf presst er Zähne und Lippen aufeinander. Ballt die Fäuste bis es weh tut. Nun sitzt der Schmerz dort. Vorübergehend. Wasser quillt in seine Augen. Läuft über und dann die Wangen entlang. Bis zu den Mundwinkeln. Findet seinen salzigen Weg auf seine Zunge.
Plötzlich klopft es an die Scheibe.
Paul reibt schnell mit dem Handrücken über die Augen. Sieht dann auf.
„Herr Paul! Alles in Ordnung?“
Frau Müller ! Er kurbelt die Schiebe runter.
„Sie sind ja immer noch hier!“
Irgendwie ist er erleichtert, sie zu sehen.
„Ah ja. Gar nicht so leicht, alles zu finden. Und dann musste ich noch mal rein. Hatte etwas vergessen. Aber jetzt hab ich alles.“
Sie strahlt ihn an. Zeigt auf einen großen Beutel über ihrer Schulter. Sieht randvoll aus. Und schwer.
„Wollnse mit?“
Die Frage ist ihm schneller über die Lippen als er denken kann. Er ist froh, dass sie tatsächlich einsteigt. Ihn in ein Gespräch verwickelt.
Gespräch? Nun ja.
Es geht um Pippo, und Foxi, und irgendeine Fabrik, und Aufräumarbeiten, und einen alten Küchenschrank, und, und, und...
Er konzentriert sich aufs Fahren. Und auf das, was sie sagt. Und Flo schaut nur mal kurz herein und klopft.
Erst als er in seiner Küche sitzt und auf das leere Terrarium starrt, ist Flo wieder voll da.
Ich muss das wissen, denkt er. Ich muss wissen, was da zwischen denen läuft. Ich muss Gorilla zur Rede stellen.
Seine Gedanken sind ein Whirlpool.
Der wird nicht da sein... Wenn er doch mit Flo unterwegs ist... Zur Rede stellen... Was gibt’s da zur Rede zu stellen?... Flo ist nicht mit mir zusammen... Nicht mehr... Trotzdem.. Sie hat gesagt...
Er springt auf. Greift nervös nach seinen Schlüsseln. Schlägt die Wohnungstür laut ins Schloss.
Im Treppenhaus stolpert er über einen Gegenstand.
Die blöde Kuh! Mitten in den Weg immer mit ihrem Kram! Schon wieder von ihrem afrikanischen Typ, was?
Er schiebt den Gegenstand unter Fluchen vor die Tür seiner Nachbarin. Dem hölzernen Negerkind ist der Speer abgebrochen. Er schubst ihn beiseite. Stürmt dann die Treppen runter.
Auf dem Marktplatz angekommen ist er völlig außer Atem. Er bleibt stehen. Lässt zum Verschnaufen seinen Blick schweifen. Hier hat er vor ein paar Tagen erst mit Flo gesessen. Es ist wieder rappelvoll. Aber kein bekanntes Gesicht zu sehen. Doch! Die Frau von der Heilsarmee macht wieder ihre Runde.
Schnell weg eh sie ihn sieht!
Die Tür zur Gorilla-Bar steht offen. Paul geht forsch rein. Direkt zur Theke. Gorilla ist nicht zu sehen. Pauls Gesicht blickt aus dem Spiegel über der Bar. Links daneben hängt eine blau gerahmte Postkarte. Ein Kamel grinst ihm entgegen.
„Dir wird das Lachen vergehen, du Affe!“
Er hat gar nicht gemerkt, dass er laut gesprochen hat.
Ein Kopf taucht von unten hinter der Theke auf.
„Mensch, Paule! Alter! Zieht’s dich auch mal wieder hier rein?!“
Paul starrt ihn an.
„Was issen mit DIR? N Geist gesehen?“
Gorilla starrt nun seinerseits auf Paul
„Deine Haare...“, bringt der nur raus.
„Wat is? Meine Ha...“ Er bricht ab. Verstehen breitet sich in seinem Gesicht aus. „Aaaach, meine Haaaaaaare!“ Er lacht. „Jo, sind runter.“ Dann schüttelt er den Kopf. „Kannste mal sehen, wie lange du schon nich hier warst. Bestimmt schon n Monat!“ Er gießt einen Ouzo ein. Schiebt ihn Paul zu. „Aufs Haus! Aber sach ma... ich hab dir doch zugewinkt vorn paar Tagen. Hastes da nich gesehn?“
Paul kann nicht denken.
Dann kann Gorilla das ja gar nicht...
„Warste heut schon im Einkaufscenter?“
„Ich? Nö. Ich geh doch zum Großhandel. Weißte doch.“ Gorilla gießt sich selbst ein, kippt sich Eiswasser drauf, dass die Flüssigkeit milchig wird, hebt das Glas. „Auf dein Spezielles!“
Wer war es DANN? Paul ist nicht bei der Sache. Sein Glas steht unberührt da.
„Willste auch mit Wasser? Trinkst doch sonst pur. Hmm...“
„Was is? ... Ach, nee, is schon gut.“ Paul greift nach dem Glas. „Hast du Flo mal gesehen?“
„Flo? Nö. Sollte ich?“
„Hätte ja sein können.“ Irgendwie ist er enttäuscht. Seltsamerweise. Fast wär’s ihm jetzt lieber gewesen, dass Flo mit Gorilla... Wer also...
„Is was? Du bist so stille.“ Gorilla wischt über die Theke. Erneut und erneut.
Barleute machen entweder das oder sie spülen Gläser, denkt Paul. Er würde am liebsten Flo wegwischen. So wie Gorilla die Gläserspuren auf seiner Theke. Aber Flo lässt sich nicht wegwischen. Paul seufzt.
„Ich muss los“, sagt er.
„Schon? Schade. Komm mal wieder rein. Die andern sind oft hier.“ Gorilla wischt und wischt.
Paul deutet auf die Theke. „Is schon sauber“, sagt er.
Als er die Bar verlässt, schließt er für einen Moment die Augen. Die Sonne blendet. Ihm ist schwindlig.
Ob ich Flo besuche? Und wenn sie nicht da ist.. Vielleicht krieg ich aus ihren Eltern was raus... Hab die schon so lange nicht mehr gesehen... Ob die mir was sagen?...
Er hat sich in Bewegung gesetzt und steuert den Park an. Er weiß nicht so recht. Und nach Hause will er noch nicht. Als er zur Sonnenuhr kommt, schnorrt er sich eine Zigarette. Der junge Mann trägt seltsame Kleidung.
Wie ein Jockey, denkt Paul. Ist hier ne Kostümparty? Seltsam.
Eh er fragen kann, ist de junge Mann weiter. Und Paul steht da ohne Feuer.
Tja, denkt er, soll wohl nicht sein.
Plötzlich schmunzelt er.
„Hey! Sie schon wieder?“
Frau Müller steht vor ihm. Um ihre Füße wuselt Foxi.
„Er braucht doch Auslauf.“ Sie zeigt auf ihren Hund. „Und ich auch.“ Sie lächelt. „Und Sie auch, oder?“
„Ja“, er grient. „Auslauf.“
„Nicht spötteln“, sagt sie zu ihm. „Der Ausdruck ist vielleicht nicht richtig. Aber mal rauszukommen ist doch gut. Ich bin froh, dass ich Foxi habe. Da fällt’s mir nicht so schwer.“
Ja, denkt er. Ich hätte auch gerne so nen Foxi. Und seine Gedanken schweifen zu den Spaziergängen mit Flo.
„Leihen Sie ihn mir mal?“, fragt er spaßend.
„Oh, nein“, sagt sie. „Im Leben nicht! Aber Sie können mich ein Stück begleiten“
---7
Der Spaziergang endet auf Frau Müllers Terrasse zu einem „Absacker“. Wobei der aus einer „guten Tasse Kaffee“ besteht. Also nicht gerade das, was Paul bisher dafür gehalten hat. Wo Frau Müller wohl den Ausdruck aufgeschnappt hat. Er schmunzelt.
Auch wenn es schon dunkel wird und empfindlich kühl, Paul fühlt sich wohl. Frau Müller hat ein kleines Windlicht aus dem Haus geholt. Das taucht die Terrasse in ein gemütliches Licht. Erinnert Paul an glückliche Zeiten.
Etwas betulich ist sie ja schon, denkt er. Aber lange nicht mehr so ängstlich wie zu Anfang. Allerdings hat sie mich nicht mit ins Haus genommen. Außenrum gleich in den Garten geschleust. Und dann noch die Sache mit der Nachbarin.
‚Huhu!’, hat sie über die Hecke gerufen. Und dort ist tatsächlich eine Person aufgetaucht. Wenigstens deren Kopf. Hinter einem Busch. Woher Frau Müller gewusst hat, dass dort jemand sein würde, ist ihm ein Rätsel. Er selbst hat niemanden gesehen. Oder gehört. Aber sie hat wohl nur sicher gehen wollen, dass jemand in Hörweite ist. Falls nötig. Er schmunzelt. Sie ist eben nicht dumm!
Der Kaffee ist schön heiß. Er pustet. Schlürft. Hört ihr zu. Von ihren Eltern erzählt sie. Und von jemand, der ihre Freundin überfallen hat. Oder auch nicht. Ihn fröstelt. Schlingt die Arme um seinen Körper um sich zu wärmen. Frau Müller verzieht keine Miene. Klar, denkt er. Sie hat sich ja auch einen Pulli ausm Haus geholt.
Foxi wuselt durch den Garten. Schnüffelt mal hier, mal da. Auch an Pauls Schuhen. Plötzlich legt er beide Pfoten auf Pauls Knie und sieht ihn mit großen Augen an.
„Er möchte gestreichelt werden“, sagt Frau Müller.
Paul zögert. Er fühlt sich von Frau Müller beobachtet und tut es dann. Frau Müller strahlt.
„Er mag Sie!“
Sie steht auf. „Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen das Haus.“
Nun doch?, denkt Paul. Da hat wohl Foxi grad ein gutes Wort für mich eingelegt.
Eigentlich will Paul gehen. Die Schlange. Sie wartet doch immer noch auf ihr neues Zuhause. Und damit fällt ihm auch Flo ihm wieder ein. Aber Frau Müller zerrt ihn in die Küche.
„Schauen Sie, alles selbst gestrichen!“
Erst nachdem er alles gebührend gelobt hat –er muss zugeben, es ist ihr wirklich gut gelungen- verabschiedet er sich.
Als er im Auto sitzt bemerkt er an sich ein seltsames Gefühl, das er sich nach einigem Überlegen als Bedauern erklärt. Er hat sich wohl gefühlt, dort auf der Terrasse. Seit langem einmal wieder. So richtig rundum.
Jetzt macht sein Magen Knoten. Und der Kaffee sich sauer in der Speiseröhre bemerkbar.
Mal was anderes zur Abwechslung, notiert er für sich zynisch. Kein Dröhnen im Schädel. Das hat Frau Müller geschafft!
Er lacht. Laut.
Nun liegt sie mir im Magen. Flo. Nicht Frau Müller.
Flo. Wer das nur war bei ihr. Der Typ war doch Kacke! Schob sie vor sich her als könnte sie nicht selbst gehen. Aber angesprochen hat SIE ihn. Hab ich doch gesehen, wie sie sich runtergebückt hat. Da am Auto. Warn bestimmt verabredet. Das Karussell in seinem Kopf dreht sich und dreht sich. Beinahe hätte er eine Fußgängerin auf nem Zebrastreifen angefahren.
Oh, man, Flo. Du blöde Ziege!
Er flucht. Zeigt der entsetzten Frau seinen Mittelfinger und prescht davon. Soll sie sich doch sein Kennzeichen merken!
In der Küche steht das leere Terrarium.
Er weiß immer noch nicht, was für eine Schlange das eigentlich ist. Und was tun? Erst ins Terrarium packen? Dann füttern? Na, am besten erst mal schauen, wie sie aussieht. Und dann ein Blick ins Buch. Tipps holen.
Behutsam schüttelt er den Karton. Seltsam, alles still. Hmm.
Er löst die Schnur. Hebt vorsichtig den Deckel an. Hält ein Tuch in der linken Hand.
Falls sie zudringlich wird, meint er.
Ob ich nicht doch besser erst das Buch wälze?
Er lacht. Bin ja schon wie Flo. Überhaupt.. Flo. Ich sollte ihr die Schlange zurückbringen. Was will ich mit ner Schlange? Muss womöglich Mäuse fangen, damit sie was zu fressen kriegt. Ist doch ihr Problem. Bin ich ihr Affe? Keinen Bock drauf.
Er drückt den Deckel wieder auf den Karton. Bindet die Schnur drum. Schnappt sich das Paket und verlässt forschen Schrittes die Wohnung.
Später wieder zurück fühlt er sich erleichtert. Pfeifend stellt er das Terrarium auf den Flur.
Morgen bringe ich dich zurück, sagt er zu dem Glasbehälter. Gut, dass ich den Kassenzettel aufgehoben habe.
Ist sonst gar nicht seine Art.
Obwohl Mitternacht schon vorbei ist, liest er noch ein bisschen in dem Schlangenbuch.
Das Hundefutter hätt ich gar nicht brauchen können, bemerkt er. Na, dann kriegt’s eben Foxi. Der freut sich.
Ein paar Tage später steht plötzlich Flo vor seiner Tür.
„Gut, dass du da bist!“
„Duuuuuuuu???“ Paul reißt ungläubig die Augen auf. „Mit dir hätt ich nun wirklich nicht...“
„Ich geh auch gleich wieder.“
„So war das nicht gemeint.“ Sie sieht müde aus, denkt er. Und irgenwie verschreckt.
„Komm ruhig rein“, besänftigt er. „Ich hab nur nicht mit dir gerechnet.“
Sie tritt von einem Bein auf das andere. Ihre Tasche rutscht von ihrer Schulter und fällt zu Boden. Ein braunes Notizbuch ist herausgerutscht. Er hebt es auf. Sie reißt es ihm aus der Hand, „gib her!“
„Ist ja gut!“ Die Heftigkeit überrascht ihn. Was ihr wohl so wichtig ist an dem Ding?
„Nun komm doch erst mal rein!“ Er tritt beiseite um ihr den Eingang frei zu geben. Sie rührt sich nicht vom Fleck.
„Die Schlange“, sagt sie und guckt zu Boden.
„Keine Angst, komm ruhig rein, die ist ....“
„Ich brauch sie.. ich mein, ich nehm sie...zurück.“
„Waaaas?“
„Brüll nicht!“ Sie flüstert nur. „Ich will sie halt wieder.“
„Jetzt auf einmal?“ Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Ich hab sie nicht mehr.“
„Waaaas?“ Nun ist sie es, die brüllt. „Du hast sie nicht mehr??“
Die Wohnungstür gegenüber öffnet sich. Eine Frau steckt den Kopf raus.
„Alles in Ordnung?“ Dann sieht sie Flo. „Ach, Sie sind es. Wieder da?“ Neugierig tritt sie einen Schritt vor.
„Alles OK, Eva.“ Paul zieht eine Grimasse. So, dass es die Nachbarin nicht mitkriegt. Zu Flo sagt er leise: „Ist wohl besser, du kommst rein.“
Flo hebt grüßend eine Hand zur Nachbarin, geht dann an Paul vorbei in die Wohnung. Im Flur bleibt sie stehen.
„Paul, nur die Schlange. Bitte. Ich muss sofort wieder los.“
„Aber ich hab sie WIRKLICH nicht mehr. Hab sie im Moor ausgesetzt. Ist doch viel zu schwierig zu halten. So ne Kreuzotter.“
Er verschweigt, dass er das erst herausgefunden hat, nachdem er die Schlange schon ausgesetzt hatte.
Flo schlägt die Hände vors Gesicht.
„Oh, nein! Ach, Mensch, Paul, was soll ich denn nun...“
Sie fällt in sich zusammen. Mit gesenktem Kopf verlässt sie die Wohnung. Tastet sich die Treppe hinunter. Paul will sie zurückhalten. Müde und trotzdem bestimmt schüttelt sie seine Hand ab. Verständnislos sieht er ihr nach.
„Das ist nicht Flo“, murmelt er.
Die Nachbarin sieht wieder zur Tür heraus. „Flo, zieht sie wieder ein?“
„Kümmer du dich lieber um den Kram, den du immer in den Hausflur stellst, Eva. Jedes Mal stolper ich drüber.“
Mit lautem Knall zieht er die Wohnungstür hinter sich zu.
Der Typ ist ihm wieder eingefallen. Er sieht vom Küchenfenster aus runter auf die Straße. Aus einer Parklücke fährt gerade ein grüner VW auf die Straße, rast los und biegt um die nächste Ecke.
„Jetzt hab ich das Nummernschild nicht gesehen!“
Paul ist verwirrt, bestürzt, verärgert, alles in einem.
Wieso wollte sie plötzlich die Schlange wiederhaben? Sie hat doch eigentlich wirklich Schiss vor denen! Er weiß das. Er hat sie erlebt als sie mal im Zoo waren. Wie sie partout nicht mit zu den Schlangen wollte! Und neulich! Als sie kaum die Schachtel halten konnte! Vor irgendwas muss sie doch NOCH mehr Angst haben als vor Schlangen!! Aber vor was?
Es lässt ihm keine Ruhe.
Ob ich doch mal mit ihren Eltern...?, denkt er. Aber was soll ich sagen.
Paul räumt in seiner Wohnung rum. Sortiert Zeitschriften aus. Stellt die Cds wieder an ihren Platz. Greift sogar zum Staubsauger. Aber selbst als es nichts mehr zu tun gibt, ist er keinen Deut weiter.
Also, gut. Doch zu ihren Eltern. Am besten gleich.
Entschlossen greift er nach seiner Jacke. Holt sein Bike aus dem Keller. Auf der Straße trifft er auf Homer.
„Hey, Paule, du alte Flachzange! Wollte grad zu dir. Hab ne geile DVD. Müssen wir gucken.“ Er haut Paul kumpelhaft auf die Schulter.
„Keine Zeit, Homer. Muss wech.“ Paul tritt in die Pedale und lässt den verdutzten Homer stehen.
„Paul!! Was solln das?“
Paul hat den Weg zum Fluss eingeschlagen.
Erst mal ein bisschen abstrampeln, sagt er sich. Dann denkt es sich schon leichter.
Er legt einen Affenzahn an den Tag und strampelt was das Zeug hält. Fast hätte er Frau Müller nicht erkannt, die mit Foxi am Fluss entlang wandert. Erst als er schon ein ganzes Stück vorbei ist, hält er an, dreht sich um und ruft: „Ich komm in den nächsten Tagen vorbei. Ich hab noch Futter für Foxi.“ Dann winkt er den beiden noch zu und steigt wieder auf.
----8
Jeden Morgen sitzt die Spinne dick und fett in ihrem Netz vor seinem Schlafzimmerfenster. Blickt ihm herausfordernd in die Augen, wenn er die Gardine beiseite zieht und das über Nacht weit geöffnete Fenster schließt.
„Gut gemacht“, sagt er zu ihr. „Keine Mücke durchgelassen. Voll cool!“
Morgens riecht der September wie Herbst. Modergeruch, sagt Paul. Er mag den. Irgendwas in ihm singt dann. Gibt ihm Ruhe.
Abends geht er dann zu Gorilla. Trinkt sich einen. Gerade so viel, dass er nicht besoffen ist. Nur eben genug um zu entspannen. Blödeln mit den Leuten. Irgendwer ist immer da. Früher hat er sich auch mal geprügelt. Nun schon lange nicht mehr. Man wird älter. Und reifer. Er lacht. Naja, eigentlich erst seit er mit Flo zusammen war. Die ist ja nun weg. Ob er wieder....?
„Flo“, reißt Homer ihn aus seinen Gedanken. „Eigentlich noch was von der gehört?“
Homer war über Sommer auf Montage. Im Süden. Hat nichts mitgekriegt.„Die is verschwunden.“ Gorilla kommt Paul zuvor.
„Wie...vaschwundn....“ Homer kneift die Augen zusammen. „Niemand vaschwindet. So inne Luft, wa? Pfffffff... Coppafield“, sagt er lachend.
Der wieder, denkt Paul.
„Nicht richtig verschwunden“, sagt er laut. „Die hat doch schon gar nicht mehr hier gewohnt. Weißt doch. War nur mal hier um noch Sachen zu holen.“
Gorilla prostet den beiden zu.
„Mich hat er verdächtigt, was mit ihr zu haben.“ Er grient. „Bin ich irre?“
„Klar“, sagt Homer. „Wer weiß. Dir is alles zuzutraun.“ Er lacht.
„Nun mach mal halblang.“ Gorilla tippt sich an die Stirn. „Ich doch nich!“
Homer lässt nicht locker. „Los, sag. Wo haste se vasteckt? Im Keller? Angekettet? Gib’s zu. So ne Sexsklavin wolltste doch schon imma.“ Er guckt Paul feixend an. „Is doch n schlimma Finga, unsa Gorilla, wa?“
Paul grinst zurück. Flo als Sexsklavin, denkt er. Ausgerechnet Flo. Das wär’s noch. Da hätte sie sich aber gewandelt wie nix.
Gorilla stellt frisches Bier vor die beiden.
„Du keins?“, fragt Homer. „Markier nich den Wirt.“
Gorilla geht nicht darauf ein. Er nimmt sich ein Wasser. Guckt von Homer zu Paul. Von Paul zu Homer.
„Kennst du Paule’s Neue?“
„Hä?“ Paul sieht Gorilla verdutzt an. „Ich hab ne Neue? Wer soll’n das sein?“
Gorilla grient ihn an. „Hab dich doch neulich mit einer gesehen. So ne ältere Dame. Mit Hund. Am Fluss. Ganz schön vertraut, ihr beide.“
„Wat? Ne Alte haste?“ Homer feixt. „Spekulierst auf’n Erbe, wa?“
„Ihr habt n Knall!“
„Und n Pfarrer ist da auch rumgegurkt.“ Gorilla kann’s nicht lassen. „Trauung im Freien?“
„Klar.“ Paul steigt darauf ein. „Haben uns den richtigen Platz schon ausgesucht. Am Fluss. große Wiese. Drachenflugplatz.“
„Jaja, n Drache!“ Homer kriegt sich nicht mehr ein. Er und Gorilla reißen einen Witz nach dem anderen. Paul hört schon gar nicht mehr zu. Er ist froh, dass Flo für sie kein Thema mehr ist.
Bei ihren Eltern hatte er damals nichts erreicht. Flo war schon weg. Ein Freund habe sie mit dem Auto abgeholt, sagten sie. Der Typ im grünen VW also. Seltsamer Freund, hatte er gedacht, Denkt er heute noch. Aber er hatte abdackeln müssen. Ohne sie noch einmal gesprochen zu haben. Irgendwie auch gut, hatte er gedacht. Aus dem Augen, aus dem Sinn. Das, was er sich wünschte. Als ob er’s nicht besser wüsste. Plötzlich macht es „Plopp!“ und da ist sie wieder.
In seinem Kopf. So wie eben.
Wie viele Frauen schon allein riechen wie sie! Nur Frau Müller nicht. Ob er sie deswegen so mag?
„Wer issen die Glückliche?“ Homer reißt ihn aus seinen Gedanken.
Aber er hat keine Lust von Frau Müller zu erzählen.
Frau Müller. Sie hatte doch glatt nach dem Terrarium gefragt. Wie’s mit den Echsen geworden sei. Ob sein Neffe sich gefreut habe. Erst wusste er gar nicht, was sie meinte. Gerade noch rechtzeitig hatte er die Kurve gekriegt. Dass er flunkern musste, störte ihn. Er mochte sie inzwischen.
Ja, sie ist wirklich eine Nette, denkt er. Ich hör ihr gerne zu. Obwohl...bin sicher nur Ersatz für sie. Pippo fehlt ihr. Ob alles stimmt, was sie so erzählt? Abgründe tun sich da auf!
Er schmunzelt. Ich hätte auch gerne so einen Krimi in meinem Leben, denkt er. Nicht der alltägliche Trott. Zur Arbeit, in die Kneipe, schlafen, zur Arbeit...
Seinen Krimi bekommt er.
Am nächsten Abend klingelt sein Telefon. Er ist gerade von der Arbeit zurück. Will duschen. Sich fertig machen für die Kneipe.
Flos Mutter ist am Apparat. Aufgeregt. Völlig aus dem Häuschen.
Flo ist verschwunden!!
Wie? Verschwunden? Niemand verschwindet so einfach....
Sie hat sich einfach nicht gemeldet, sagt die Mutter. Seit drei Wochen nicht! Das hat sie noch nie gemacht! Gut, so regelmäßig war es schön länger nicht mehr. Aber drei Wochen!! Was sie denn machen soll. Den Vermieter hat sie schon angerufen. Der hat gesagt, sie hat keine Miete bezahlt für den letzten Monat. Wieso zahlt sie keine Miete? Und warum hat sie keinen Dauerauftrag. Und geschellt hat er auch schon. Der Vermieter. Aber niemand hat geöffnet.
Sie schluchzt fast.
Ob sie mal hinfahren soll? Ob ER nicht mal hinfahren kann?
„ICH?“ Paul ist verwirrt. Und sauer. Wie kommt sie auf DIE Idee! Wieso ruft sie IHN an! Es ist doch Monate her, dass er Kontakt zu ihr hatte. Das letzte Mal an dem Tag, als er bei ihnen war. Bei ihr und ihrem Mann. Und da war sie schon weg!
Aus den Augen, aus dem Sinn. Das sagt er aber nicht laut.
Sie weint jetzt. Tut ihm leid. Er weiß nicht, was er sagen soll.
Ob sie nicht den Freund angerufen hat. Der müsste doch was wissen.
Er versteht kaum was, sie sagt. ...keine Nummer...Anschrift...Name...nur, dass er Rocco heißt...aber das sei doch kein Name...
Es ist ihm unangenehm.
Schließlich rät er ihr hinzufahren. Vielleicht mit ihrem Mann?
Als sie aufgelegt hat, dröhnt sein Kopf.
Nicht DAS wieder, denkt er.
Paul macht sich auf zu Gorillas Bar. Die erhoffte Ablenkung stellt sich nicht ein. Nach einem Bier erzählt er Gorilla von dem Anruf. Aber der sagt nichts als: „Die wird schon wieder auftauchen. Eltern!“ Dann spült er seine Gläser.
Paul ist enttäuscht. Das ist alles? Wenn man schon mal wen braucht...
Einfach zu verschwinden, denkt er. Das passt nicht zu Flo. Nicht zu der Flo, die ich kenne. Obwohl...reichlich merkwürdig war sie schon zum Schluss. Wo sie die Schlange zurück wollte. Die Schlange! Und wie im Tran war sie irgendwie..
Seine Gedanken purzeln durcheinander. Sein Kopf dröhnt zwar nicht mehr, dafür macht sich sein Magen bemerkbar.
Ich hatte doch nur ein Bier, denkt er.
Ihm wird übel. Er legt Geld auf die Theke. Winkt Gorilla zu, der kaum hochguckt. Steht draußen. Schnappt ein paar Mal nach Luft.
Auf dem Marktplatz steht ein oranger Straßenfeger. Mitten auf dem Platz. Er fegt.
Wenn das fegen sein soll, denkt Paul. Der hält den Besen wie einen Tanzpartner. Wirbelt ihn herum. Dabei singt er leise. Ganz schön bekifft!
Paul lacht. Atmet noch ein paar Mal durch. Steigt dann auf sein Bike.
„Du! Nich wegfahren!“
Er ist schon unterwegs. Das helle Stimmchen bringt ihn zum Stehen.
„Was ist?“ Er dreht sich um. Ein Mädchen, etwa acht Jahre alt, läuft ihm nach.
„Du hast meinen Wolfi am Rad!“ Das Mädchen hat ihn erreicht, zeigt auf seinen Sattel.
Er muss absteigen um zu sehen was sie meint. In der Federung hängt ein kleines braunes Plüschding. Paul runzelt die Stirn. „Und wie kommt das Ding da hin?“ Er reißt die Augenbrauen hoch. Zwinkert dann aber mit den Lidern, als er sieht , dass die Kleine ein ängstliches Gesicht macht.
Sie grinst nun. „Geklettert...geturnt...gespielt...“
„Aha!“ Paul fummelt das Spielzeug los. Guckt es genauer an. „Ein Hund!“
„Ja, Wolfi.“ Das Mädchen streckt die Hand aus.
Paul lässt den Plüschhund an seinem Bändchen schwingen. „Foxi“, sagt er. Das Mädchen verzieht das Gesicht. „Nicht!... Wolfi!“
Nicht, dass sie doch noch heult, denkt er. Drückt ihr das Tier in die Hand.
„Tschüß“, sagt er. Steigt auf. Radelt davon Richtung Fluss. Tritt wild in die Pedale. Strampelt und Strampelt. Stehend.
Ein irrer Tag heute, denkt er. Käme jetzt ein Drache angeflogen, mich tät’s nicht wundern.
Völlig aus der Pust hält er an. Japst. Keine Kondition! Er ringt nach Atem.
In dem Moment klatscht etwas auf die Wiese neben ihm. Ein Hund läuft bellend darauf zu.
Das ist doch Foxi!
Er dreht sich um. Da steht Frau Müller. Sie rollt eine Schnur auf. Bewegt sich dabei auf den Gegenstand im Gras zu. Als sie ihn aufhebt, erkennt er einen Flugdrachen.
Sag ich’s doch, grient er, ein irrer Tag!
Er winkt. Ruft ein lautes „Hallo“.
„Den hab ich von Pippo!“ Frau Müller lacht ihm zu. „Aber es klappt nicht!“
„Wird noch! Ist kein richtiger Wind!“ Paul ist nicht in der Stimmung für eine Unterhaltung. Er winkt noch einmal und steigt wieder auf sein Bike.
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Ein erneuter Anruf von Flos Mutter kommt drei Tage später.
„Stellen Sie sich vor, Paul! Flo ist auf Mallorca!“
Seit wann siezt sie mich, denkt Paul. War ich so abweisend das letzte Mal?
„Schön“, sagt er.
„Ja, wir haben eine Karte von ihr bekommen. Diddl. Stellen Sie sich das vor! Diddl auf Mallorca!“
Stellen Sie sich das vor. Ist wohl ihr Lieblingssatz, denkt er.
„Ne, kann ich mir nicht vorstellen. Und was macht sie da?“ Diesmal will er höflich sein.
„Es geht ihr gut. Sie hat dort Arbeit gefunden. Und kommt bald, die Wohnung auflösen. ‚Biss bald“ steht auf der Karte. Stellen Sie sich das vor. Biss mit zwei s. Wie von beißen. Diddl als Dracula. Ha-ha.“ Sie lacht.
Er merkt, dass sie erleichtert ist. Er auch. Obwohl ein ungutes Gefühl in ihm bleibt.
„Was für Arbeit hat sie denn?“, will er wissen.
Aber davon hat sie nichts geschrieben.
Seltsam. Er sagt es nicht laut. Er ist froh, dass Flos Mutter nicht wieder heult. Wie neulich.
„Sie ist ja sicher mit ihrem Freund zusammen“. Er sieht wieder Flo so ungewöhnlich fahrig vor ihm stehen. Und dann diesen Typ, mit dem sie abgedampft war. Von dem ihre Eltern nicht mal den Namen wissen.
„Weiß nicht“, sagt Flos Mutter. „Auf der Karte hat sie nichts erwähnt. Aber sie kommt ja bald.“ Dann fügt sie plötzlich hinzu: „Ich bedaure es ja so sehr, dass ihr euch getrennt habt.“
„Sie sich von mir“, sagt er. Und das wegen so nem Kerl, denkt er weiter. Obwohl.. DEN hatte sie da ja wohl noch nicht. Aber weiß man’s?
„Na, dann ist ja alles in Ordnung“, sagt er in die Stille, die entstanden ist. „Dann brauchen Sie ja nicht hin.“
Sie ist merkwürdig, denkt er. Noch vor ein paar Tagen regt sie sich so furchtbar auf, und nun ist sie so cool. Dabei ist doch noch so viel ungeklärt. Naj, nicht mein Bier.
Er ist froh, als sie aufgelegt hat.
Als ihm auffällt, dass er von ihr nichts mehr gehört hat, sind fast vierzehn Tage vorbei. Keine Nachricht. Weder von Flos Mutter noch von Flo. Nun gut, dass Flo sich meldet, damit hat er auch nicht gerechnet. Aber wenigstens ihre Mutter!
Und seltsam, nicht einmal Frau Müller hat er in dieser Zeit gesehen. Sonst ist sie ihm doch alle Nase lang über den Weg gelaufen. Muss er sich Sorgen machen? Ob ihr was passiert ist? Womöglich ist doch was dran an den verrückten Geschichten, die sie erzählt hat. Und ist ihr zum Verhängnis geworden! Dann lacht er. Ja, ganz bestimmt! Miss Marple wird eins über den Schädel bekommen haben. So wie die alte, von der sie erzählt hat.
Dann fällt ihm ein, dass er ja noch immer das Katzenfutter stehen hat, das er für die Schlange gekauft hatte. Am besten, er bringt’s mal hin. Dann sieht er, was Sache ist.
Gibt’s da eigentlich ein Verfallsdatum, fragt er sich. Na, zur Not kratz ich’s weg. Resturlaub hab ich noch. Den könnt ich ja mal nehmen. N verlängertes WE wär nicht schlecht.
Aus seinem Vorhaben wird nichts. Zum einen trifft er auf seiner allabendlichen Tour in die Gorilla-Bar plötzlich auf Frau Müller. Die hat es allerdings furchtbar eilig und ist ziemlich kurz angebunden.
Kennt man gar nicht von ihr, denkt Paul.
Eine etwas korpulente Dame befindet sich in ihrem Schlepptau. Die sagt nicht mal ‚Guten Tag’, sondern beäugt ihn nur misstrauisch.
Das wieder, denkt er. Wie zu Anfang bei Frau Müller. Seh ich so böse aus? Er macht ein finsteres Gesicht und schaut die Frau provozierend an. Dann grinst er. Sie verzieht keine Miene. Nur Foxi scheint sich zu freuen. Er springt begeistert an Pauls Bein hoch und leckt wild die Handfläche, die Paul ihm hinhält.
„Keine Zeit“, murmelt Frau Müller dann aber und die drei ziehen schnell davon.
Hmm... Er ist ein wenig pikiert. Bestellt sich bei Gorilla erst einmal „was Hartes“.
„Soll’s n sein?“; fragt Gorilla. „Wodka wie immer?“
„Dreifach“, sagt Paul, „mindestens.“
„Also wie immer.“ Gorilla feixt.
In dem Moment stürmt Homer herein. Wedelt eine dünne Zeitung in der Luft. Knallt sie auf die Theke und hängt sich selbst schwer pustend auf einen Barhocker.
„Schon ... die Abendzeitung ... gelesen?“, fragt er außer Atem und fängt an die Zeitung auf der Theke auszubreiten. Er legt Paul seine Hand auf den Arm. „Tut mir echt leid, Mann, wirklich, echt leid.“
Paul sieht ihn verständnislos an.
„Wasn mit dir los? Ham se dir ins Gehirn geschissen?“
„Has nich gelesn, wa?“
Homer schlägt mit der flachen Hand auf die aufgeschlagene Seite.
Der sieht aus als sei wer gestorben, denkt Paul. So’n Gesicht hab ich bei dem noch nie gesehen!
„Willste mich verscheißern?“, sagt er. „Nich mit mir!“
„Haste denn ga nix von ihrn Eltan gehört?“ Homer hat immer noch seine Hand auf Pauls Arm. So als wolle er ihn aus irgend einem Grund festhalten. Oder trösten.
„Hier!“ Er zeigt erneut auf die Zeitung.
Und da sieht Paul es! Sein Blick fixiert das Bild, das ihn aus der aufgeschlagenen Seite anspringt.
Flo!!
Was macht ihr Bild in der Zeitung? Flo in der Zeitung?! Das ist eindeutig Flo!
Sein Blick wandert zur Überschrift.
=Junge Frau tot aufgefunden!=
Der Text verschwimmt vor seinen Augen. Seine Gedanken, ein einziger Whirlpool, lassen sich nicht ordnen. Seine Hände zittern. Er greift nach dem Glas. Der Inhalt ist verschüttet ehe er den Mund erreicht.
„Los, gib ne noch ein’n!“ Homer zeigt auf die Wodkaflasche. Nimmt sie, als Gorilla nicht reagiert, und gießt selbst ein.
„Hier, trink!“
Paul fühlt den Kopfschmerz kommen. Er kriecht vom Nacken hoch. Nistet sich sofort hinter seinen Schläfen ein. Startet sein Trommelfeuer.
Lange nicht gehabt, denkt er. So lange nicht mehr.
Ihm ist kalt. Er zittert noch immer. Jetzt innerlich. Er kippt den Wodka herunter. Hält das Glas hin. Lässt noch mal nachschenken. Er will was sagen, kriegt aber keinen Ton raus.
Homer redet dafür ununterbrochen.
Paul schiebt das Glas von sich. Rutscht vom Barhocker. Probiert, ob er stehen kann. Greift nach der Zeitung. Macht ein paar Schritte Richtung Tür.
„Ich zahl später“, krächzt er heiser.
„Sollich mit?“ Homer hält ihn am Arm fest.
„Alles in Ordnung. Lass mich.“ Heftig schüttelt Paul seine Hand ab.
Er läuft und läuft und läuft.
Erst am Fluss macht er erschöpft Halt. Völlig aus der Puste geht er dort neben einem der Holztische mit Bank in die Hocke. Sein Herz rast. Sein Kopf platz fast. So heftig schlägt die Pauke von innen gegen seinen Schädel.
Er beugt den Kopf auf Knie. Verschränkt die Arme hinter seinem Nacken.
Nie wieder1 Nie wieder! Ich sehe sie nie wieder!
Er merkt nicht wie er im Takt der Gedanken wütend auf seine Schläfen schlägt. Die Zeitung, die ganze Zeit krampfhaft in der Hand gehalten, fällt auf den Boden. Der Wind blättert sie auf. Treibt die Seiten in alle Himmelsrichtungen.
Paul will sie festhalten. Tastet danach. Denn erkennen kann er kaum etwas. Wuttränen machen ihn blind.
„Paul!“
Er hört, und hört dennoch nicht.
Kriecht weiter vorwärts. Bis er Papier fühlt.
„Paul, was ist mit Ihnen?“
eine hand legt sich auf die seine, eine andere auf seine Wange. Klopf leicht dagegen.
„Paul!“
Eine Zunge leckt über sein Ohr.
Er wischt seine Ärmel über die Augen. Wie durch eine beschlagene Fensterscheibe erkennt er Frau Müller. Neben ihr Foxi, aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd.
Plötzlich bemerkt Paul, dass er auf allen Vieren gekrochen sein muss. Er und Frau Müller knien im Dreck unter dem Holztisch und sehen sich in die Augen.
„Mein Kopf“, stammelt er. „Die Zeitung... Flo... tot...“
Frau Müller zieht Paul am Arm unter dem Tisch hervor. Eine dickliche Dame hilft. Als er sich aufrichtet, knicken plötzlich seine Beine weg. Er versucht sich an der Tischkante festzuhalten. Sich auf die Bank zu setzen. Die beiden Frauen greifen ihm unter die Arme. Doch dann fällt er in sich zusammen und rutscht zu Boden. Fast in Zeitlupe. Liegt regungslos da. Frau Müller fühlt seinen Puls. Buxiert ihn unter Mithilfe der Dame in die stabile Seitenlage. Dann greift ihre Begleitung zum Handy und ruft den Notarzt.
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Flos Beerdigung liegt einige Wochen zurück.
Wie viele genau, weiß Paul nicht einmal. Seit jenem Tag, als er dort am Fluss zusammengeklappt war, ist das Leben im Nebel an ihm vorbeigehuscht. Nur ab und an taucht es aus den Schwaden auf. Aber die Abstände werden bereits kleiner und seine Klarsicht besser.
Es hatte eine ganze Weile gedauert, eh die Gerichtsmediziner Flo zur Beisetzung freigaben. Gefunden worden war sie in einem Waldstück nahe ihrer Wohnung. Von einem Hund, der nicht angeleint war. Zum Glück. Wer weiß wie lange sonst... Er verfolgt den Gedanken nicht zu Ende. Ein Brieföffner soll neben ihrem Körper gelegen haben. Ein sogenannter Seitenstecher. Etwas, das Mönche benutzt hatten. Zur Wahl der Bibelstelle, die gelesen werden sollte. Aber sie ist nicht erstochen worden. Flo. Ein Schlangenbiss hat sie getötet. Eine giftige Schlange. Irgend etwas Tropisches. Von Bisswunden am Hals hat Flos Mutter weinend erzählt. Wie von einem Vampir.
So wie auf der Diddl-Karte, denkt Paul. Seltsam, was einem alles einfällt.
Ausgerechnet eine Schlange! Wo Flo doch einen solchen Ekel vor diesen Viechern hatte! Und doch war sie völlig aus den Fugen gewesen, als sie da im Treppenhaus vor ihm stand. Als er ihr die Schlange nicht zurück geben konnte, weil er sie doch ausgesetzt hatte!
Klar. Ihr Tod ging nicht mit rechten Dingen zu. Und die Polizei begann sofort ihre Ermittlungen.
Natürlich wurde nach Rocco gefahndet. Der angeblich neue Freund, von dem niemand wirklich etwas wusste. Den auch in dem Haus, in dem Flo wohnte, nie jemand gesehen haben will.
Ob er die Karte aus Mallorca geschickt hat?
Ob er Flo dazu gezwungen hat sie zu schreiben?
Und dann wäre der Schlangenbiss natürlich auf keinen Fall ein Unfall gewesen!
Ja, wie auch? Eine tropische Schlange dort im Wald, aktiv, in dieser Jahreszeit?!
Im Ort munkelt man von seltsamen Ritualen, an denen Flo teilgenommen haben soll. Irgend eine Sekte. Aber Beweise dafür gibt es nicht.
Und außerdem, Flo doch nicht!, denkt Paul. Flo, die Stabile, Selbstsichere!!
Und dann wieder das Bild von der Flo, die die Schlange zurück haben wollte. Hätte er sie zurück halten müssen? Hätte er...?
„Hätte“ bringt nicht weiter, hat Frau Müller zu ihm gesagt. Er weiß, dass sie Recht hat, aber die „hätte“ tauchen immer wieder auf.
Der Pfarrer hatte emotionslos ein paar Worte gesprochen, die Paul zeigten, dass er Flo nicht gekannt hat. Es war der Pfarrer, der den er Anfang des Jahres hatte die Schwäne füttern sehen. Den gleichen depressiven Gescihtsausdruck hatte er auch jetzt.
Nur wenige Personen hatten sich auf dem Friedhof eingefunden. Flos Eltern natürlich. Und Homer. Darüber hatte Paul sich gewundert. Aber Homer schien Angst um ihn zu haben. Nachdem er am Fluss zusammengeklappt war und ein paar Tage im Krankenhaus verbracht hatte, ließ Homer täglich von sich hören. Und Frau Müller. Ursel. Auch sie betüddelte ihn. Auf eine seltsam unaufdringliche Art und Weise.
Erst hatte sie ihn ein paar Tage in ihrem Haus aufgenommen. Und auch jetzt noch ist sie als liebevolle Zuhörerin zur Stelle, wenn er reden will. Und er redet viel. Das ganze Jahr hat er Revue passieren lassen.
Ob er nicht einmal wieder auf die Insel fahren wolle, hat sie ihn gefragt. Sie und Foxi würden auch gerne einmal auslüften.
Paul lächelt in sich hinein. Frau Müller. Foxi. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass diese merkwürdige Alte, die nach Lavendel roch und immer wieder seinen Weg kreuzte, sein Ruhepol werden würde.
„You’re my light in darkness“, hat er vor ein paar Tagen zu ihr gesagt. Sie hat ihn sicher verstanden, aber in ihrer inzwischen lockeren offenen Art nur ihre Hand auf die seine gelegt und entgegnet: „Ik kann keen Platt“ und gelacht.
Und dann hat sie ihn in den Arm genommen. Das macht sie oft seit Flos Tod und es tut ihm gut.
Wenn des Nachts die Alpträume kommen, der Hühnerhof seiner Großmutter sich mit Blut füllt und zerfetzte rote Federn aufstieben, dann taucht plötzlich ihr ruhiges Gesicht auf.
„Alles wird gut“, scheint es sagen zu wollen. „Alles braucht nur seine Zeit.“
Und wenn er dann aufwacht, ahnt er, dass sie Recht haben kann......
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