Der goldene Kochtopf

Ein modernes Märchen?

„Was soll ich heute denn schon wieder kochen? Das eine mag Lena nicht, das andere findet Maya abscheulich. Und ein bisschen gesund sollte es auch noch sein. Ich kann nicht immer nur Pizza, Nudeln oder Pommes machen. Gemüse und Rohkost müssten dringend mal wieder vorkommen, aber so verpackt, dass es auch noch schmeckt. Mir fällt einfach nichts Richtiges ein und ich habe auch überhaupt keine Lust mir jeden Tag etwas Neues auszudenken.“ Verstimmt knallte sie die Kühlschranktür zu.
„Also überbackene Toastbrote mit Tomatensalat. Irgendetwas würde sich jede dabei herausstochern“, beschloss sie und schaltete das Radio ein. Die allgegenwärtige Popmusik ging ihr – wie meistens – ziemlich auf die Nerven und sie suchte sich einen anderen Sender. Wieder und wieder erklang Gedudel oder Gesabbel über die Ereignisse des Tages. Sie drehte immer weiter an ihrem alten Küchenradio, bis nur noch ein unangenehmer Pfeifton zu hören war. Doch halt! Da war gerade noch was gewesen! Ganz behutsam schob sie den Knopf ein Stückchen zurück und horchte auf.
„Und nun richten wir uns an die einfallslose Köchin zu Hause. In der schnelllebigen Zeit heute sollte die Bereitung einer Mahlzeit nicht mehr als 10 Minuten dauern. Natürlich können Sie dies mit Hilfe von Fertigkost und Mikrowelle schaffen. Aber es schmeckt stets gleich und schadet der Gesundheit. Wenn Sie aber in der Lage sind, folgende drei Aufgaben zu erfüllen, könnten Sie den goldenen Kochtopf gewinnen. Durch überaus gesunde magische Energie bereitet dieser in Sekundenschnelle jedes von Ihnen gewünschte Gericht zu. Sollte Ihnen einmal keines einfallen, ist er in der Lage eine Überraschungsmahlzeit herzustellen.
Und jetzt zu den Aufgaben: Dieses Mal richten wir uns nur an das weibliche Geschlecht. Zunächst müssen Sie sich zu dritt zusammen tun. Von Vorteil ist es, wenn Sie verwandt sind, aber auch gute Freundinnen erfüllen die Eingangsbedingungen. Jede muss eine der Aufgaben lösen und zwar in der richtigen Reihenfolge, die sie selbst ermitteln müssen. Zu finden sind:
Die Wurzel allen Übels,
Die Frucht der Erkenntnis,
Das Wasser des Lebens .
Ihre Ergebnisse senden Sie unter dem Stichwort: „Die magische Küche“ an den Freien Sender Unglaublich, Postfach 17771 Berlin. Ich wiederhole...“. Schnell griff sie sich den halb beschriebenen Einkaufszettel und notierte Anschrift und Aufgaben.
„Und nun wünschen wir Ihnen die richtige Inspiration.“
Danach herrschte Stille bis wieder dieser Pfeifton einsetzte.

Sofort streckte sie den Arm aus, drehte aufgeregt den Knopf hin und her. Die Stimme blieb jedoch verschwunden.
Freier Sender Unglaublich? Da musste sich jemand einen Scherz erlaubt haben. Für einen klugen Kopf war es sicher nicht schwierig, sich einen Platz zu ergattern in dem ganzen Wellensalat, der so durch die Luft schwirrte,. Jedenfalls für eine Zeitlang. Ob man den Wellendieb gerade erwischt hatte?
Ihr fiel die Mittagsmahlzeit wieder ein, die sie hatte bereiten wollen. Sie riss die Schranktür auf, griff nach dem Toastbrot.
Mist! Da war nur noch die leere Tüte. Lena und Maya hatten wieder einmal nicht Bescheid gegeben, dass sie die letzten Scheiben gegessen hatten. Und das Zurücklassen leerer Verpackungen war eine dumme Angewohnheit von ihnen.
Sie schnappte sich Portemonnaie und Autoschlüssel um sich auf den Weg zum Supermarkt zu machen. Als sie am Bahnhof vorbei kam, fiel ihr Blick für einen Moment auf die große Plakatwand. Aus den Augenwinkeln meinte sie den Schriftzug „Die magische Küche“ gelesen zu haben.
„Das war doch das Stichwort!“, grübelte sie. „Sollte dieser Wettbewerb seine Richtigkeit haben?“
Sie nahm sich vor, das Plakat auf dem Rückweg genauer unter die Lupe zu nehmen. In der Zwischenzeit dachte sie darüber nach, wen sie als Mitstreiterinnen ansprechen könnte, wenn es daran ginge, die gestellten Aufgaben zu lösen. Eigentlich fielen ihr nur Trude und Luise ein. Es war nicht so, dass sie sie als gute Freundinnen bezeichnen würde. Die beiden waren einfach die einzigen, die sie gut genug kannte um sie zu fragen.
Im Supermarkt fiel ihr auf, dass sie ihren Einkaufszettel nicht dabei hatte.
„Na, klasse“, dachte sie, „jetzt werde ich wieder den Einkaufswagen voll haben und dann ist nichts darunter, das ich wirklich gebrauchen kann.“
Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern, was auf dem Zettel gestanden hatte.
„Das Toastbrot nicht... Käse vielleicht? Kartoffeln?“
„Na, Klara, führst du Selbstgespräche?“
Sie drehte sich um, weil ihr jemand auf den Rücken stupste. Hinter ihr stand Trude und grinste sie verschmitzt an
„Mensch, Trude, an dich habe ich gerade gedacht. Ist Luise vielleicht auch in der Nähe?“ Suchend blickte sie in die Runde.
Trude zog eine Augenbraue hoch. „ Mit uns hast du also gesprochen... Nun, ich weiß zwar nicht, in wie weit ich dir bei deiner Wahl zwischen Toast, Käse und Kartoffeln helfen kann, aber wenn du mir den Sachverhalt genauer darlegst...“
„Ja, ja, spotte nur. Ich hab einfach mal wieder meinen Einkaufszettel liegen lassen und nun habe ich keine Ahnung... Aber, weißt du, Trude, deshalb hab ich nicht an dich gedacht. Da gibt’s was ganz anderes...“
Während Klara ihren Wagen durch die Reihen schob, mal rechts, mal links ins Regal griff,  lief Trude neben ihr her und hörte zu. Erst als sie längst wieder auf dem Parkplatz standen, war Klara fertig.
„Was denkst du? Sollen wir da mitmachen?“
Trude war sprachlos. Unverwandt schaute sie Klara an und bekam den Mund nicht auf.
„Hey! Nun sag schon was!“
„Du hast’n Knall!“
„Ja, schon gut. Aber wenn dann doch was dran ist. Machst du dann mit?“
„Die Wurzel allen Übels. Die Frucht der Erkenntnis. Das Wasser des Lebens. Klingt entweder total veräppelt, total verrückt oder total wie im Märchen. Aber gut. Lass uns mal zum Bahnhof fahren, die Plakatwand inspizieren und dann sehen wir weiter.“
„Vielleicht bringen sie’s nochmal im Radio.“
In der Hoffnung auf eine neue Botschaft schalteten sie das Autoradio ein.
„Dreh mal hin und her“, sagte Klara, „ich weiß nicht genau, wo der Sender war.“
    ...“...wenn Sie aber in der Lage sind, folgende drei Aufgaben z...“...
„Das ist er!“, Klara schrie so sehr, dass Trude vor Schreck zusammenzuckte und den Sender verstellte.
„Los, stell schnell wieder ein!“
Klara riss das Steuer herum und fuhr auf den Seitenstreifen. Sie fegte Trudes Finger beiseite und drehte wild an dem Knopf herum.
„Mensch, Trudchen, jetzt ist er wieder weg!“, wütete sie. Aber dann kam doch die Stimme wieder.
“...des Lebens. Ihre Ergebnisse senden Sie unter dem Stichwort...“
Sie hörten atemlos zu bis der Pfeifton einsetzte.
„Wie beim ersten Mal“, sagte Klara, „jetzt weißt du, dass ich nicht spinne.“
„Die Wurzel allen Übels“, sinnierte Trude, „die Wurzel allen Übels... eine merkwürdige Sache. Um welche Wurzel kann es sich handeln? Irgendwas zum Kochen?“
„Misstrauen – das ist die Wurzel allen Übels. Hat meine Oma immer gesagt!“
„Ja, aber damit kann man nicht kochen.“
„Braucht man vielleicht ja gar nicht. Vielleicht hat es mit Kochen gar nichts zu tun!“
Sie waren inzwischen weiter gefahren und kamen zum Bahnhof. Enttäuscht blickten sie auf die große Plakatwand. Nichts stand da über eine „magische Küche“. Biolek machte großflächig Werbung für sein neues Kochbuch. Das war alles.
„Bei dem kann man ja wohl nicht gerade von einer magischen Küche sprechen“, sagte Karla. Sie mochte ihn nicht und fand seine Kocherei ziemlich pathetisch. Aber eigentlich ärgerte sie sich nur, dass das Plakat nun doch nicht dem Radiowettbewerb galt.
„Egal“, sagte sie dann, „wir brauchen auf jeden Fall Luise als Dritte. Am liebsten würde ich sofort vorbeifahren. Blöd ist nur, dass gleich Lena und Maya aus der Schule kommen und ich noch diese Käsetoast mit Tomatensalat machen muss. Wie wär’s, wenn du bei uns isst und wir danach hinfahren?“
Sie ärgerte sich, dass sie nicht gleich los konnte und beneidete Trude, die weder Mann noch Kinder hatte und deshalb immer machen konnte was sie wollte.
Während sie gemeinsam die Toastbrotscheiben belegten und  in den Grill schoben, überlegten sie laut Lösungen für die Aufgaben.
„Die Frucht der Erkenntnis... hat deine Oma dazu auch was zu sagen gehabt?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Müsste das nicht ein Apfel sein? Du weißt schon, Adam und Eva und die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Gab nicht Eva Adam einen Apfel?“
Karla zuckte die Achseln. „Es hätte was mit Essen zu tun“, sagte sie. „Besser als die Sache mit dem Misstrauen.“
„Mit Misstrauen hat es auch zu tun. Irgendwie. War Eva nicht misstrauisch ,ob Gott ihr etwas vorenthält? Erkenntnis nämlich.“
Während sie die Lebensmittel im Schrank verstauten, sagte Karla plötzlich: „Weißt du eigentlich, dass ich noch nie bei dir war? Seit wir uns damals auf dem Gemeindebazar kennen gelernt haben, sind wir höchstens mal zusammen ins Kino gegangen. Das war’s. “
„Bei dir war ich auch noch nie. Außerdem hab ich immer gedacht, dass du nie Zeit hast. Du wirkst immer so hektisch. Ich hab mich nie getraut, dich einzuladen. Auch jetzt war ich ganz erstaunt, dass du mich so ohne Weiteres zu Dir mitgenommen hast.“
Sie sahen sich an und fingen an zu lachen.
„Was ist denn nun die Wurzel dieses Übels?“
„Und was die Frucht der Erkenntnis?“
Sie lachten erneut.
„Auf jeden Fall“, prustete Karla, „ brauchen wir ganz schnell die Luise ,damit wir auch noch das Wasser des Lebens entdecken. Ich ruf sie gleich mal an.“
„Mensch, Karla! Wann hab ich denn das letzte Mal von dir gehört?“
 Luise war erstaunt über die Einladung. Karla klang so aufgeregt. Und Trude war auch da. Im Hintergrund rief sie etwas von Wurzeln und Früchten.
„Ihr kocht wohl zusammen, was?“, fragte Luise.
„Ja, das auch“, sagte Karla, „aber nun setz dich ins Auto und komm.“
Als Luise an der Tür schellte, waren schon eine ganze Reihe überbackener Toasts vertilgt und eine Menge Späße über Wurzeln allen Übels und Früchte der Erkenntnis gemacht worden. Auch Maya und Lena hatten sich eifrig daran beteiligt. Nur zum Wasser des Lebens war ihnen nichts eingefallen.
Das änderte sich schlagartig, als Luise eintrat.
„Ich dachte, wenn du mich schonmal einlädst, dann muss das gefeiert werden“, sagte sie und hielt eine große Flasche Sekt hoch.
„Das Wasser des Lebens!“, lachten  Trude und Karla.
Sie zogen die verdutzte Luise ins Wohnzimmer und schenkten den Sekt ein.
„Wollen wir eigentlich tatsächlich an dem Wettbewerb teilnehmen“, fragte Trude als sie nach Stunden immer noch gemütlich zusammen saßen und erzählten.
 „Das ist doch alles Spinnerei, und wir haben nichts, was auch nur im Entferntesten mit Kochen zu tun hat!“
„Warum so misstrauisch? Du weißt doch , das ist die Wurzel allen Übels“, kicherte Luise. Sie stand auf. „Kommt, lasst uns tanzen.“ Sie bewegte sich zu einer lautlosen Melodie.
„Ich mach das Radio an“, sagte Karla, „da gibt’s bestimmt was Passendes.“
Sie presste die verschiedenen Knöpfe um die Ereignisse des Tages zu überspringen und einen Sender mit tanzbarer Popmusik zu finden.
„ ...Stichwort „Die magische Küche“. Das Gewinnertrio steht fest. Senden Sie keine weiteren Lösungen mehr ein. Der goldene Kochtopf geht in den nächsten Tagen an: Karla, Trude und Luise aus Vahrenberg...“
Ein Pfeifton setzte ein.
 
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