A purpura

Theresa war sich sicher, das Mädchen schon einmal gesehen zu haben. Das leuchtende Purpur der Haare war ihr aufgefallen, und sie hatte nicht glauben können, dass eine Mutter einer doch höchstens Fünfjährigen die Haare färbte.           
Theresa  überlegte angestrengt, wo sie sich begegnet waren. War es nicht auf dem Friedhof gewesen? War nicht das Mädchen plötzlich hinter einem der Grabsteine aufgetaucht, als sie wegen der Hitze die Abkürzung durch die schattige kühle Kastanienallee genommen hatte, die den Friedhof in zwei Hälften teilte? Die Bewohner nannten sie die arme und die reiche Hälfte, denn wie auch immer es gekommen war, die ärmeren Leute ihres kleinen Ortes hatten fast alle auf der östlichen Seite ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Theresa wählte selten den Friedhof als Abkürzung. Sie empfand diesen Ort als „zu voll“. Und auf Nachfrage, was sie denn damit meine, gab sie an, es seien einfach zu viele Geister dort. „Ich bekomme Platzangst“, sagte sie, und es störte sie nicht im geringsten, wenn die Leute den Kopf über sie schüttelten und über sie lachten.
Und doch hatte sie an jenem Tag den Weg über den Friedhof genommen. Im Schatten der Bäume war es herrlich gewesen, und sie hatte sich sogar auf einer der Bänke niedergelassen, die Beine weit von sich gestreckt, die Augen geschlossen um dann tief durchzuatmen. Als sie die Augen wieder öffnete, kam das Mädchen hinter einem Grabstein hervor. Es sah zu ihr herüber, genau in ihre Augen, so durchdringend, dass sie dem Blick nicht lange standhalten konnte und winkte verschmitzt. Sie senkte die Augen und als sie sie wieder hob, war das Mädchen verschwunden.

Nun stand es keine zehn Meter von ihr entfernt, inmitten von Kübeln voller Nelken, auf diesem kleinen Blumenmarkt in Funchal. Das Purpurhaar leuchtete in der Sonne. Die Luft war erfüllt von Duft. Wie Nelkengewürz, dachte sie. So stark! Selbst über diese Entfernung konnte sie den Geruch eindeutig ausmachen. Eine Marktfrau ordnete Dahlien und Strilizien in Wassereimer ein. Theresa beobachtete das Mädchen eine Weile. Sie fragte sich, welcher Zufall die Kleine mit der außergewöhnlichen Haarfarbe nach Madeira verschlagen hatte. Das wollte sie unbedingt herausfinden und überlegte, wie sie das anstellen könnte.
Ich kaufe ihr ein paar Blumen ab, dachte sie, das weitere wird sich dann schon ergeben.
Sie ging hin und bat sie um fünf Nelken. Als die Kleine keinerlei Anstalten machte sie zu bedienen, wurde Theresa unsicher.
Ah, sie versteht kein Deutsch, dachte sie. Klar, das ist es. Sie war in Deutschland zu Besuch!
Theresa hoffte mit Englisch weiterzukommen. Ihr Spanisch war kärglich, schon das spanische Wort für Nelke fiel ihr nicht ein, und auf Portugiesisch kannte sie gerade mal „Bom dia“.
Wenigstens das, dachte sie, brachte ihre Kenntnisse an und fuhr dann fort: Five of these, please.
Zur Bekräftigung zeigte sie auf den Kübel direkt vor sich. Die Marktfrau hob den Kopf - Dalia? Dalia? - und dann stürzte ein Schwall Portugiesisch auf Theresa ein, während die Frau eine Dahlie nach der anderen aus einem Eimer zog und ihr dann als dicken Strauß in die Arme drückte.
No, fünf..., five..., sagte Theresa irritiert.
Sie hielt fünf Finger in  die Luft. Erneut überrollte die Marktfrau sie mit portugiesischen Worten, nahm ihr im gleichen Atemzug die Blumen wieder ab und stopfte sie zurück in den Eimer.
No, no.
Vielleicht konnte die Kleine helfen. Theresa blickte Hilfe suchend um sich. Aber die Kleine war nicht mehr da.
Mist, dachte Theresa. Mist! Mist! Mist! Jetzt habe ich alles verpatzt.
Es blieb ihr nichts anderes übrig als sich zurückzuziehen.
Der Vorfall beschäftigte sie. Wenn sie doch nur nicht allein in den Urlaub gefahren wäre! Dann hätte sie jetzt jemanden gehabt, mit dem sie über alles hätte reden können. Nicht, dass sie sich wirklich etwas davon versprochen hätte. Wahrscheinlich fehlte ihr nur ein Gesprächspartner. Wieso hatte sie Evi nicht mitgenommen in ihr Ferienhaus? Ihre Freundin hatte doch mehrfach Andeutungen gemacht, wie sehr sie sich über eine Einladung gefreut hätte. Richtig gefragt hatte sie allerdings nicht. Und Theresa war froh darum gewesen. Evi ging ihr nämlich eigentlich auf den Wecker. Es verging kein Tag, dass sie ihr nicht auf die Pelle rückte. Immer mit einem Vorwand.
Resi, hast du mal zwei Eier für mich - Kannst du mir vielleicht eben ein paar Kartoffeln borgen? Du kriegst sie auch bestimmt morgen gleich wieder!  
In Wirklichkeit verschaffte sie sich auf diese Weise nur Einlass zu Theresas Wohnung. Und innerhalb weniger Minuten hatte sie es dann geschafft, es sich auf dem Sofa bequem zu machen. Und auch wenn Theresa ihr durch die Blume klar zu machen versuchte, sie möge doch wieder gehen, es nützte nichts. Es war Theresa nämlich gar nicht möglich, deutlich zu machen was sie wollte. Ein geseufztes „Ich hatte mich so auf einen ruhigen Abend gefreut“ hielt sie für Schärfe, und Evi verstand natürlich nicht, wie das eigentlich gemeint war. Theresa wollte ihr endlich entfliehen, und so war sie froh gewesen, dass Evi sie nicht wirklich gefragt hatte, ob sie mit nach Madeira kommen solle. Es war ihr erspart geblieben, sich entweder zu einem eindeutigen Nein durchzuringen oder Evis Gesellschaft in Kauf zu nehmen. Glücklich war sie ins Flugzeug gestiegen.
Und nun sollte Evi ihr fehlen? Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Theresa schüttelte den Kopf und sprach laut vor sich hin:
Ich will meine Ruhe. Ich will meine Ruhe.
Und? Hatte sie die nun? Das Purpurmädchen hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Sie ging in die kleine Küche ihres Ferienhauses und stellte den Wasserkessel auf. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, hier auf Madeira am Nachmittag eine Tasse Tee zu trinken. So wie die Engländer, dachte sie. Schließlich hatten die sich die Insel dereinst unter den Nagel gerissen, und noch heute kamen sie zuhauf um hier ihren Urlaub zu verbringen. Ob sich die Madeirenser dabei wohl eben so fühlten wie sie sich, wenn Evi sie überfiel?
Der Wasserkessel pfiff. Sie hängte einen Teebeutel in einen Becher - mug, dachte sie, die Engländer nenne ihn mug. Sie goss Wasser auf und nahm ihn  mit in ihren Wohnraum. Sie setzte sich in den großen Ohrensessel am Fenster, zog die Beine hoch und pustete vorsichtig auf das heiße Getränk. Das tat gut!
Heute Abend mache ich den Kamin an, dachte sie bei sich. Es ist doch schon ganz schön kühl.
Sie vergaß das immer. Schließlich konnte sie ihr Ferienhäuschen nur außerhalb der Saison nutzen. Während der Saison fanden sich leicht Urlauber, die es mieten wollten, und auf das Geld wollte sie nicht verzichten. Sie zog eine Wolldecke über ihre nackten Füße und sah hinaus in den Garten. Am Ende stieg er leicht an. Das war hier so. Ebene Flächen gab es wenig.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand hätte ihren Arm berührt. Erschrocken wandte sie sich um, aber da war niemand! Draußen bellte ein Hund, ein Hauch von Nelke hing in der Luft.
Oh, mein Gott, dachte sie, jetzt schnappe ich über! Das Erlebnis heute Morgen macht mir wohl mehr zu schaffen als ich dachte.
Sie stand auf ging durch alle Räume und prüfte dann, ob die Eingangstür verschlossen war. Ihr Puls pendelte auf den Schlag der Standuhr ein, die in der Diele die volle Stunde verkündete.
Nur ruhig, sagte Theresa sich, niemand ist hier.
Sie fing laut an zu lachen.


Als Theresa am nächsten Tag aufstand, nieselte es.
Tja., das hat ja noch gefehlt, dachte sie sich. Hätte ich nur gestern noch eingekauft.
Sie schnappte sich ihre Regenjacke und einen Korb und machte sich auf den Weg zu den Markthallen. Sie liebte das Treiben dort. Die vielen Farben der Früchte und Gemüse erfreuten ihr Auge , die Gerüche schmeichelten ihrer Nase. Jedenfalls so lange bis sie der Fischhalle nahe kam. Sie mochte keinen Fisch. Sie mochte ihn nicht essen, nicht riechen und auch nicht sehen.  
Heute erledigte sie ihre Einkäufe im Eiltempo. Sie hatte sich nämlich entschlossen, noch einmal den kleinen Blumenmarkt aufzusuchen, um zu sehen, ob das Mädchen wieder dort war. Wenn es auch nicht wirklich wichtig war, nicht wirklich eine Rolle spielte, sie wollte einfach wissen, ob es tatsächlich dasselbe Mädchen war, das sie damals auf dem Friedhof in Deutschland gesehen hatte. Es war, als sei sie endlich von einem Ehrgeiz gepackt worden.
    Auf dem Weg kam Theresa an einer der vielen kleinen Kapellen der Stadt vorbei. Fast an jedem Platz befand sich eine und war einem oder einer Schutzheiligen geweiht.
Das Nieseln hatte sich gerade in einen heftigen Schauer verwandelt. Theresa flüchtete in das Innere, setzte sich auf eine Bank. So oft sie schon ihren Urlaub in Funchal verbracht hatte, sie war noch nie in einer der Kapellen gewesen. Ihre Augen hatten sich schnell an das Halbdunkel gewöhnt. Sie war erstaunt, wie warm es war. Ob das von den Kerzen kam, die vor einigen Statuen, die in Nischen aufgestellt waren, brannten? Sie stellte ihre Einkaufstasche ab und schlenderte den Gang entlang. Die Kirche war schlicht. Kein Gold, keine Schnörkel, weiße Wände. Nicht einmal Azulejos, die blau-weißen Kacheln, die so berühmt waren für Portugal und so üppig als Schmuck dienten. Außerdem  vermisste sie die Rosenkranzstationen. Sie selbst war nicht katholisch, hatte aber Evi häufiger zu einer Andacht oder Messe begleitet.
Theresa sah sich aufmerksam um. Vielleicht hatte sie sich in ein evangelisches Gotteshaus verirrt. Immerhin war das möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Jedoch die Statuen sprachen dagegen. Im Augenblick  stand sie offensichtlich vor einer Maria.
Sie nahm die anderen Nischen unter die Lupe. Es waren noch weitere drei. Den ersten Heiligen meinte sie zu erkennen: Christopherus. Den hatte sie schon an den Rückspiegeln von Autos baumeln sehen.
Komisch, dachte sie, das Aufhängen scheint irgendwie üblich zu sein. Jesus hängte man ans Kreuz, das Kreuz an Wände oder um Hälse, den Christopherus an Rückspiegel.
In der dritten Nische stand eine Heilige, die sie nicht kannte. Theresa suchte nach einer Beschriftung, konnte aber keine entdecken. Sie war enttäuscht; sie hatte Gefallen gefunden an dieser kleinen Kapelle, sie fühlte sich geborgen und ruhig, empfand die steinernen Figuren als verloren gegangene Verwandte, deren Namen sie nur vergessen hatte.
Nichts zu machen, dachte Theresa, mal sehen, ob ich die letzte kenne.
Sie sah schon von weitem den üppigen Blumenschmuck, der weit aus der Nische herausragte. Es musste wohl eine besonders wichtige Heilige ein. Als Theresa vor der Nische angekommen war, erstarrte sie. Es gab gar keine Statue, in der Nische hing ein Bild! Und das Bild zeigte ein Mädchen mit purpurfarbenem Haar.
Das konnte doch nicht sein!
Theresa sah sich um. Aber im Augenblick war niemand da, den sie hätte fragen können , was es mit diesem Mädchen auf sich hatte. Mit diesem Mädchen, dem sie nun zum dritten Male über den Weg lief.
Die Tür der Sakristei knarrte. Ein Pfarrer betrat den Kirchraum, knickste, bekreuzigte sich vor dem Altar und kam dann den Gang herunter auf Theresa zu.
Senor, puede ayudarme?
Theresa war es egal, wie schlecht ihr Spanisch war. Sie hoffte nur, der Pfarrer konnte sie verstehen.
Puede ayudar? Can you help me? Können Sie mir helfen?
Der Pfarrer war freundlich. Er setzte sich mit ihr auf eine Bank und hörte geduldig und aufmerksam ihrem Sprachengewirr zu. Und nach einer guten Stunde kannte Theresa dann die Geschichte des Purpurmädchens.
Die Purpurne. A Purpura. Als Fünfjährige war sie verschwunden  und vor fünfzehn Jahren, ein Jahr nach ihrem Verschwinden, in den Bergen tot aufgefunden worden. Nie wurde geklärt, ob die Kleine weggelaufen oder entführt worden war. Als sicher galt nur, dass sie die ungewöhnliche Haarfarbe nicht hatte, bevor sie verschwunden war, wohl aber, als sie tot aufgefunden wurde.
Einen Monat nach ihrer Beerdigung häuften sich die Berichte von Frauen, die die Kleine gesehen haben wollten. Auf dem Friedhof und auch entlang der Levadas der kleinen Wasserkanäle, in den Bergen. Ihre Mutter bat den Pfarrer immer wieder, ihr in der Kapelle die kleine Nische zur Verfügung zu stellen. Sie wollte eine Gedenkstelle errichten.
Du bist doch anders als die anderen Pfarrer, sagte sie, deine Kirche ist anders als die anderen Kirchen. Du wirst mir doch die leere Nische geben. Meine Tochter hat sich hier immer wohl gefühlt. Sie soll in deiner Kirche einen Platz haben.
Aber erst als auch die Frauen der Gemeinde die Mutter unterstützten, ließ sich der Pfarrer darauf ein.
Und nun hing dieses Gemälde in der Nische seiner  kleinen  Kirche. Die Frauen kamen die Kleine  hier besuchen und seitdem war sie  ihnen nicht wieder erschienen. Nur ab und zu verirrte sich eine Touristin in die kleine Kirche und  behauptete, das Mädchen schon einmal gesehen zu haben. Am Tag zuvor, eine Woche zuvor, einen Monat zuvor.
Ob das nach ihrem Besuch in der Kapelle noch weiterhin der Fall war, konnte der Pfarrer nicht sagen. Er hatte keine der Touristinnen je wieder gesehen.
Theresa nickte. Ihr war wohl zumute.
Warum keine Kerzen vor der Nische entzündet seien, fragte sie. Nein, sagte der Pfarrer. Das scheine die Purpurne  nicht zu wollen. Wann auch immer die Frauen eine Kerze angezündet hätten, sie seien sofort wieder ausgegangen, innerhalb von Sekunden. Sie könne es ja versuchen. Er sah Theresa aufmunternd an.
Nein, nein, sagte Theresa, ich denke, sie will keine Heilige sein. Sie ist doch so schon ungewöhnlich genug. Eine Fünfjährige. Mit diesen Haaren.
Der Pfarrer erhob sich.
Ich wünsche Ihnen alles Gute, sagte er. Ja, ich wünsche Ihnen alles Gute.
Als Theresa die Kapelle verließ, schien die Sonne. Sie setzte sich für einen Moment auf den Brunnenrand auf dem kleinen Platz davor und tauchte eine Hand in das Wasser. Als sie ihr Spiegelbild sah, leuchtete ihr Haar in purpurn.
 
© 2004 · Mimi··email senden