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BegegnungenAm Anfang war die Zeit. Davon hatte er plötzlich eine ganze Menge. Er fühlte sich in eine andere Welt versetzt, erkannte aber nicht woran es lag. Nachdem er den ersten Schock überwunden und festgestellt hatte, dass er nun nicht mehr schmerzte, begann er sein Dasein zu genießen.Die Mehrheit der vielen Menschen störten ihn nicht. Im Gegenteil. Die Mehrheit, das waren die Stillen. Er empfand die Freundlichkeit, die ihm von ihnen entgegengebracht wurde, als wohltuend. Entweder wurden ein paar leise Worte gewechselt oder man grüßte sich durch Kopfnicken oder ein kleines Lächeln. Aber niemand drängte sich auf. Die anderen waren die Lauten. Vor ihnen nahm er sich in Acht. Sie hatten es stets furchtbar eilig, rannten sich dabei fast um und beschimpften sich dann lautstark. Keine Zeit, keine Zeit! sprach ihr ganzer Körper. Zuerst versuchte er ihnen auszuweichen. Bis er merkte, dass er ihre Rempeleien gar nicht spürte. Dann ermahnte er sie zur Ruhe, doch sie reagierten nicht auf seine wohlgemeinten Ratschläge. Und er hatte nicht den Eindruck, dass sie ihn überhaupt gehört hätten. So gab er bald auf, ging seiner Wege und beachtete nur noch die Stillen. Die Lauten nahm er bald kaum noch wahr... Nach einer Weile traf er seine Frau. Es erstaunte ihn, dass sie noch genau so aussah wie zu der Zeit, als sie ihn verlassen hatte, und dass er sie in ihrem alten Café antraf. Er überlegte angestrengt, wann sie dort das letzte Mal gewesen war. Waren zwei Jahre vergangen, zehn oder fünfundzwanzig? Sie lächelte ihm zu. Er wich zwei Lauten aus und setzte sich zu ihr an den Tisch. - Oh, wie schön dich zu sehen, sagte sie. Und: Ist unser Junge auch hier? Da steckten noch Vorwürfe in ihm, aus der Zeit, als sie plötzlich Hals über Kopf weggegangen war und nichts mehr hatte von sich hören lassen, aber sie wollten nicht aus ihm heraus. Er fühlte sich irgendwie geborgen, und all das Alte spielte keine Rolle mehr. - Oh nein, sagte er, unser Junge ist nicht hier. Noch nicht. Aber was ist mit dir? Ihm wurde klar, dass sie offensichtlich zu den Leisen gehörte. Er wusste so wenig von ihr. - Du weißt nicht? fragte sie. Da war doch mein Autounfall. Ich fuhr zu schnell, die Straße war regennass und ich rutschte bei hoher Geschwindigkeit in einen Baum. Glücklicherweise waren keine anderen beteiligt... - Oh, sagte er. Sie schwiegen und verstanden in dem Moment, dass sie nichts hätten erklären müssen, denn alles war gut. Und außerdem: Wahre Liebe sucht Ewigkeit. Er erhob sich , sah sich noch einmal um, lächelte, hob grüßend die Hand und ging. Er fühlte sich leicht und beschwingt. Er ließ sich treiben und fand sich bald auf dem Land wieder. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war heiß und er hätte schwitzen müssen. Von den Lauten war kaum jemand unterwegs. Die Leisen schwebten in Scharen an ihm vorbei und durch ihn hindurch. Lautlos wie immer. Im Schatten eines Baumes saß eine ihm vertraute Gestalt. Er setzte sich neben sie und betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen. Die Lider flatterten ein wenig und ein Atem hob ruhig und regelmäßig die Brust. - Mein Junge, dachte er erstaunt. Hier ist er also. Er ist älter geworden. Er stupste ihn mit seinen Gedanken an. - Na, geht es dir gut? - Ich denke schon, antwortete der junge Mann ohne den Mund zu bewegen, ich habe alles im Griff. Mach dir keine Sorgen. - Ist gut, mein Junge, sagte er, und liebe Grüße auch von Mutter. Er stand auf und sah zärtlich auf den jungen Mann hinunter. Der öffnete benommen die Augen und sah sich verwirrt um. - Machs gut, mein Junge, sagte der Stille. Er sah, wie sich die Lippen des jungen Mannes bewegten, doch er vernahm keine Worte mehr, als er in Raum und Zeit verschwand... |
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© 2004 · Mimi·![]() |